Rein äußerlich unterscheidet sich die Pariser Vorstadtspelunke "Zum grünen Kakadu" von keinem anderen Kellerlokal, in dem man dem Amüsement frönt. Vielleicht sind nur die Lustbarkeiten delikater, die in Aussicht gestellten Sensationen prickelnder, weil obszöner. Man schreibt in diesem Einakter (1898) Arthur Schnitzlers den 14. Juli 1789: Es ist früher Abend, durch die Stadt zieht die aufgeregte Volksmeute der Pariser Revolutionäre.

Am Ende des Stücks wird man den abgeschlagenen Kopf des verhassten Bastille-Gefängnisdirektors auf eine Pike gespießt durch die Straßen tragen. Noch aber ist der Abend einem ästhetischen Experiment vorbehalten. Der verkrachte Theaterdirektor Prospère hat als Wirt des Kakadu einen Raum der perfekten Illusion erschaffen. Seine Schauspieler sind als Pariser Proleten verkleidet. Sie betragen sich ausnehmend ungezwungen und schwingen allerlei Schimpfreden gegen den König und dessen Parasiten, die Aristokraten.

Gerade Letztere aber sind die Genießer dieser Aufführung, die man, in modernen Begriffen gesprochen, als soziale Installation bezeichnen könnte. Indem die Darsteller sich besonders laut, zudringlich und ordinär gebärden, jagen sie den adeligen Zaungästen wohlige Schauer über die parfümierten Rücken. Marquisen und Herzöge schmunzeln über die Promiskuität der kleinen Leute und missbrauchen deren Not als Aphrodisiakum.

Doch damit gibt sich Schnitzler nicht zufrieden. Natürlich ist es die Wirklichkeit selbst, die in Gestalt des Schauspielers Henri an die Kneipentüre pocht.

Dieser Star des Kakadu-Ensembles hat sich soeben mit einer besonders leichtlebigen Dame vermählt. Ihre promiskuitiven Anwandlungen sind ihm nur zu vertraut. Er tut, was vielleicht jeder echte Künstler an seiner Stelle machen würde: Er spielt den "Verbrecher aus Leidenschaft" derart überzeugend, dass die gesamte Gesellschaft - einschließlich der Theaterleitung - tatsächlich vermeint, er hätte den adeligen Liebhaber seiner Frau abgestochen. Als aber besagter Herzog lebendig bei der Tür hereintritt, muss der arme Henri erkennen, dass er zwar den Rächer nur gespielt, der Aristokrat aber wohl wirklich seiner innig geliebten Léocadie beigewohnt hat.

Unter den Gästen der Kaschemme kann man unschwer den Diagnostiker Schnitzler finden. Der Dichter-Figur des Rollin ist es vorbehalten, die Merkformel dieses Theatermeisterstücks auszusprechen. "Sein ... spielen ... kennen Sie den Unterschied so genau, Chevalier?", bedeutet er seinem bass erstaunten Sitznachbar, dem Landadeligen de la Tremouille.

Die wahre Aristokratie jedoch genießt ihren eigenen Untergang als erotisches Spektakel. Die Marquise von Lansac stöhnt auf vor Lust, ehe man den (echten) Herzog niedersticht. Vom Genuss, den das eigene Hinscheiden bereitet, verstand die Wiener Ringstraßen-Kultur eine ganze Menge. (Ronald Pohl, DER STANDARD,20.6.2012)