Man kann das Publikum dort lassen, von wo es gar nicht wegwill: Die digitale, auf Facebook agierende Gruppe "Dokumenta Tiefenbach" achtet darauf, dass die Kunst im Dorf bleibt.

Foto: dokumenta tiefenbach

Tiefenbach - Über die wesentlichen Themen der gerade angelaufenen Großausstellung Documenta 13 in Kassel ist viel und gern geschrieben worden. Und die dazu abgegebenen Kommentare waren nicht immer freundlich oder unironisch angelegt. In all der dort 2012 gebotenen Installationskunst kreucht und fleucht es nämlich nicht nur in Gestalt von Bienen, Hunden, Ameisen, Schmetterlingen und Eseln. Auch "physisch erfahrbare Objekte als Speicher von Informationen, als Generator von Kommunikation und als Gegengift zu einem mit fiktiven Werten operierenden, ortlos-omnipräsenten globalen Kapitalismus" lassen sich dort laut "Frankfurter Allgemeiner Zeitung" sozusagen ins Kraut schießend finden.

Es geht also nicht nur darum, dass die Kunst offensichtlich in ihrem Bemühen um Relevanz auf den Hund gekommen ist und das "wirkliche Leben" zur kuratorischen Chefsache erklärt. Mittels recht einfacher Erkenntnismodelle in wuchernden Gärten, einem summendem und brummendem Musenhain, auf künstlichen Hügeln und toxischen Unkrautfeldern geht es auch um die "Präsenz der Dinge".

Felder, Wiesen und Auen

Documenta-Chefin Carolyn Christov-Bakargiev sieht sich diesbezüglich und auch aufgrund der im Ausstellungskatalog üppig gedeihenden Kuratorenprosa mit berechtigten Vorwürfen konfrontiert. Über die Behelfsbrücke der Kunst wolle sie den Besuchern neben obligater Zeigefingerkunst aus politischen Brennpunkten mittels Feel-Good-Wellness und Nordic Walking durch die in Kassels Feldern, Wiesen und Auen angepflanzten und ausgesiedelten Werke Esoterik und Animismus unterjubeln.

Vor allem das hier nach 1997 und der Documenta 10 unter der Leitung Catherine Davids zu einem neuen Höhepunkt der Theorielastigkeit gelangte Wesen oder Unwesen des Kuratorentums wird heftig kritisiert. Künstler, vor allem auch jene, die sich klassischen Kernbereichen wie der Malerei oder der Plastik ohne dem Zusatz "sozial" widmen, hätten kaum noch Chancen, beachtet zu werden. Eher schon werde mediokren Arbeiten an der diffusen Schnittstelle von Natur und Kunst der Vorzug gegeben, weil hier die Tiefe des Kontexts besser ausgelotet werden könne. Die Freiheit der Kunst als Diktatur der die Welt erklärenden Kuratoren. Dabei geht jede Sinnlichkeit nicht nur verloren. Laut den Betreibern der in einem kleinen Waldviertler Ort angesiedelten, höchst inoffiziellen Kasseler Außenstelle Dokumenta Tiefenbach werde diese alte Sehnsucht nach der " Schönheit der Oberfläche" zudem als reaktionär abgetan.

Nicht nur deshalb wolle die über Facebook agierende Gruppe anonym bleiben. Die in der Wiener Kunst- und Kunstvermittlerszene etablierten Betreiber legen als Antwort auf die autokratische Allmacht der Kuratoren auch großen Wert darauf, "geheim" zu bleiben und das eigene Tun in den Hintergrund zu rücken: "Die Freiheit der Kunst ist die Freiheit des Konsumenten." Wenn die Kunst in die Natur geht und dort menschliche Verfehlungen kommentiert, muss man dafür ja nicht unbedingt die beschwerliche Anfahrt nach Kassel auf sich nehmen. Man kann ein kunstinteressiertes Publikum auch dort lassen, von wo es im Wesentlichen gar nicht wegwill, von zu Hause.

Mit dem Mittel der digitalen Fotografie und gutem Humor versucht die " Dokumenta Tiefenbach" nicht nur, die in Kassel gezeigte Kunst und deren hüftsteife Deutungen in weihevoller Kunstpredigersprache ad absurdum zu führen. Das können die Geheimkuratoren natürlich auch - etwa wenn vor dem im obenstehenden Bild mit dem zum "Dokumenta-Hauptpavillon" umgewidmeten Tiefenbacher Feuerwehrhaus eine Installation der fiktiven rumänischen Künstlerin Mari Murasanu zu sehen ist, die sich mit ihrer Silage-Arbeit "kritisch mit der globalisierten Agrarverfassung und speziell den Machinationen des Saatgutvertreibers Monsanto" auseinandersetzt.

An anderer Stelle im Ort lassen sich mit überwucherten Ziegeln 700 Steine finden, eine als "urbanistische Intervention" gedachte Reaktion auf Joseph Beuys' Documenta-Arbeit "7000 Eichen - Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung" von 1982. Es findet sich Landmaschinenschrott als "afrikanische Kunst im Kontext postkolonialer Kritik auf die Entwicklungshilfe-Importe der 1970er-Jahre". Man sieht eine Kirchturmuhr ohne Zeiger, die den Besucher dazu einlädt, über den Zusammenhang von Raum, Zeit und Realität zu rätseln. Weitere Stationen sind etwa "eine radikalfeministische Installation" von in Mulchsäcken gesammelten Kondomen einer Künstlerin aus Thailand sowie zu Gartenbänken gepresste, geschredderte Eurogeldscheine als "Sinnbild der Verharmlosung der Finanzkrise".

Die "Dokumenta Tiefenbach" mag "Kunst als Institutionskritik" zwar als "gegessen" ansehen. Als Anlass, auch selber vor der eigenen Haustür mit vorgefundenen Bildwelten weiterzuspielen und über Zivilisation, Natur und Verfall zu reflektieren, taugt dieser heitere Ansatz von kunstsinnigen Flaneuren aber hervorragend. Die Dokumenta Tiefenbach sagt: Gründet viele Dokumentas! Die Kunst liegt vor der eigenen Tür. (Christian Schachinger, DER STANDARD, 26.6.2012)