Das deutsche Bundesverfassungsgericht verkündet am 12. September seine wegweisende Vorabentscheidung über die Verfassungsmäßigkeit des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). Der Europäische Gerichtshof prüft zudem, ob der Eurorettungsschirm gegen EU-Recht verstößt. Das deutsche Gericht hat bereits klargestellt, dass jeder weitere Eurozonenvertrag bzw. jede weitere finanzielle Unterstützung für schwächere Eurostaaten die Haushaltssouveränität des Deutschen Bundestages respektieren müssen.

Die deutsche Bundesregierung hat betont, dass der ESM eine Haftungsobergrenze von 700 Milliarden Euro vorsieht, den deutschen Anteil daran auf 190 Milliarden Euro begrenzt und der Bundestag jede weitere Hilfeleistung aus dem Fonds gesondert genehmigen muss. Es scheint, die Politiker haben den Vertrag entweder nicht gelesen oder sie verstehen das Kleingedruckte nicht. Der ESM ist eindeutig rechtswidrig.

Entgegen der Zusicherung von Bundeskanzlerin Merkel beschränkt Artikel 8 des ESM-Vertrags das Fondskapital nicht auf den Nominalwert von 700 Milliarden Euro, sondern auf den Ausgabewert. Der ESM-Gouverneursrat kann beschließen, dass der Ausgabewert den Nennwert übersteigt. So könnte ein Großteil des ESM-Kapitals zum Beispiel etwa zum Doppelten des Nominalwerts ausgegeben, die Gesamthaftung der Eurozoneregierungen könnte sich damit fast verdoppeln auf über eine Billion Euro.

Gemäß Artikel 25 Absatz 2 haften solvente Mitgliedstaaten für Fehlbeträge, die sich ergeben, wenn ein anderes ESM-Mitglied seiner Einzahlungspflicht nicht nachkommt. Bereits jetzt scheint dieser Fall unvermeidlich, weil Griechenland oder Portugal zu effektiven Einzahlungen gar nicht in der Lage sind.

Immune Amtsträger

Laut Artikel 21 kann der ESM unbeschränkt Kredite aufnehmen sowie Anleihen an den Kapitalmärkten begeben. Hierdurch werden faktisch die von Merkel selbst verurteilten "Eurobonds" eingeführt, weil alle Mitgliedstaaten gemeinsam für die vom ESM begebenen Anleihen haften, und dies ohne Kredit- und Haftungsgrenze.

Aufgrund der Nachschusspflicht und eines erhöhten Ausgabekurses kann die Belastung Deutschlands entgegen der Darstellung der Bundesregierung durchaus auf über 700 Milliarden Euro steigen; diejenige anderer solventer Eurostaaten, z. B. Österreichs oder Finnlands, ebenfalls auf ein Vielfaches ihrer Einlagen und sogenannter Haftungsgrenzen.

Der Eindruck der Irreleitung von Parlament und Öffentlichkeit durch die deutsche Regierung verstärkt sich in anderer Hinsicht, so durch die Diskussion, ob der ESM eine Banklizenz erhalten sollte. Eine Banklizenz hat er quasi schon jetzt kraft Vertrag. Artikel 19 erlaubt darüber hinaus die Rettung maroder Banken durch ESM-Beschluss. Es bedarf also keiner Vertragsänderung zur gemeinsamen Bankenrettung, wie im Zusammenhang mit dem EU-Ratsgipfel Ende Juni immer wieder betont wurde.

Das Bundesverfassungsgericht hat erklärt, dass weitere Hilfen nicht ohne parlamentarische Zustimmung erteilt werden dürfen. Laut Artikel 4 Absatz 4 kann der ESM-Gouverneursrat jedoch finanzielle Soforthilfen genehmigen, wenn die Umstände dies nach Ansicht der Kommission und der EZB erfordern. Das deutsche Ratsmitglied kann in so einem Fall entweder einfach zustimmen oder den Bundestag um Sofortgenehmigung ohne parlamentarische Prüfung bitten. Stimmt er ohne Rückversicherung zu, genießt er Immunität, während einmal gefasste ESM-Ratsbeschlüsse nicht justiziabel sind.

Ähnlich wie der EZB-Präsident können ESM-Entscheidungsträger in Bezug auf ihre Amtsgeschäfte nicht für Verletzungen gültigen EU- oder nationalen Rechts verantwortlich gemacht werden.

Durch den ESM-Vertrag könnte die Haftung Deutschlands für Schulden angeschlagener Eurostaaten leicht auf 700 Milliarden Euro ansteigen, zusammen mit bestehenden Garantien und Krediten nach Zahlen des Ifo-Instituts in München schon auf anderthalb Billionen Euro. Das wäre nicht weniger als das Doppelte bzw. Vierfache des deutschen Bundeshaushaltes. Die Budgetautonomie des Deutschen Bundestages wäre damit selbst bei Teilverlusten faktisch aufgehoben.

"Draghiavellis" Aktivitäten

Der ESM-Vertrag ist nicht nur verfassungwidrig, er verletzt auch sämtliches einschlägiges EU-Recht. Die EU-Verträge verbieten Staatsfinanzierung über die Notenpresse und untersagen Regierungen die Kreditaufnahme bei der EZB oder nationalen Zentralbanken, einschließlich der Veräußerung von Regierungsanleihen an die EZB. Dem ESM ist gestattet, was der EZB gemäß den Verträgen untersagt ist: Staatsanleihen direkt zu kaufen, Staatskredite zu gewähren und insolvente Banken zu retten. EZB-Präsident Draghi hat bereits angekündigt, dass er Anleihekäufe durch den ESM zur Rechtfertigung nähme, dass die EZB nicht mehr durch Beschränkungen des Artikels 123 gebunden wäre. Vertragswidrig befinden sich bereits jetzt zwischen 40 und 150 Milliarden Euro griechischer Staatsanleihen in der EZB-Bilanz. Details über deren Zusammensetzung und Kreditwürdigkeit weigert sich "Draghiavelli" zu veröffentlichen.

Der ESM-Vertrag vergemeinschaftet die Staatsschulden durch Direkthilfen und ESM-Bonds. Für die gemeinschaftlichen Schulden gilt keine Obergrenze. Die geplante Schuldenunion steht in eklatantem Gegensatz zum "No bail"-Prinzip des EU-Vertrages.

Die EZB-Politik der subventionierten Staatsfinanzierung durch die Notenpresse wird, durch Zunahme der Geldmenge, verbunden mit einer Euroabwertung und damit einhergehendem Anstieg der Import- und Rohstoffpreise, die Inflation anheizen. Der EZB-Präsident öffnet damit die Pandorabüchse einer Wandlung des Euro zur Lira, einer Schwachwährung mit geringer Preisstabilität. Hiermit verstößt er offen gegen das Preisstabilitätsgebot im EU-Vertrag und der EZB-Satzung, das die Erhaltung der Kaufkraft des Euro zum primären Ziel der EZB macht. Zudem schwächt Draghis Staatsfinanzierung den Sparanreiz.

Der ESM-Vertrag begründet ein System, mit dem den durch Immunität geschützten ESM-Bankers, in Abstimmung mit der Kommission und der EZB, die Verfügung über nahezu unbegrenzte Summen nationaler Steuergelder eingeräumt wird. Die Kontrollrechte der nationalen Parlamente werden umgangen. Damit und durch die Schuldenvergemeinschaftung verstößt der ESM gegen deutsches Verfassungsrecht sowie die EU-Verträge. Dennoch erwartet kaum jemand, dass das Bundesverfassungsgericht oder der EuGH den ESM zu Fall bringen; allenfalls geringfügige Korrekturen sind denkbar.

Ist der ESM einmal in Kraft, ist die Grundlage des National- und Rechtsstaats infrage gestellt: das Budgetrecht des demokratisch legitimierten Parlaments und seine Fähigkeit, durch Steuer- und Ausgabepolitik die Lebensverhältnisse der Bevölkerung in den einzelnen Staaten zu bestimmen. Es ist eine Tragödie, dass der Rechtsstaat quasi per Gerichtsurteil in Deutschland und Europa abgeschafft wird. (Gunnar Beck, DER STANDARD, 25.8.2012)