Ursula Krechel: nach Recht suchend in dem Roman "Landgericht".

Foto: Alexander Paul Englert

Die ersten, erstaunten Blicke des Heimkehrers Dr. Richard Kornitzer gelten dem Bahnhof der Bodensee-Gemeinde Lindau. Sauber verfugt erscheint ihm Nachkriegsdeutschland. Kornitzer reist sofort weiter, bewohnt mit seiner Gemahlin das Dachstübchen eines nahen Bauernhofs und lernt die Namen unzähliger Apfelsorten auswendig. Städte und Landschaften üben einen verhaltenen Zauber auf den spröden Juristen aus. Man schreibt das Jahr 1948. Der Jude Kornitzer verdankt seine Rückkehr der Initiative seiner protestantischen Frau Claire.

Zehn Jahre hatte der Patent experte des Berliner Zivilgerichts auf Kuba verbracht. Für die Rettung der nackten Haut vor den Nazis hatte er vorher wie zum Hohn "Auswanderungssteuer" erlegen müssen. Wirklich unermesslich aber sind die menschlichen Verluste: Ihre beiden Kinder hatten Kornitzers unter dem Eindruck des sich verschärfenden Terrors nach England geschickt - in die Obhut rechtlich denkender Menschen.

Der Kern von Ursula Krechels monumentalem Heimkehrerroman "Landgericht" liegt in dem merkwürdig schwammigen, beliebig verformbaren Begriff: Recht. Kornitzer, dieser ein wenig knöcherne Verwandte von Michael Kohlhaas, wünscht so behandelt zu werden, wie es das Recht gebietet. Er meldet sich "dienstverwendungstauglich". Er möchte an der Neueinrichtung Westdeutschlands an veranwortlicher Stelle mitwirken.

Man willfährt seiner Bitte. Kornitzer wird in das kriegszerstörte Mainz beordert, wo man ihn zum Landgerichtsdirektor ernennt. Seinem Gehalt werden die Jahre unfreiwilliger Untätigkeit gutgeschrieben. Justiz und Verwaltung kennen keine Empathie. Jeder Akt der Wiedergutmachung krankt an der Gönnerhaftigkeit von Menschen, die als Täter von Gestern für die Heimkehrer von Heute nur wenig Tröstliches bereithalten.

Der Herr Rat siedelt sich in einer Mondlandschaft an. Er bezieht Quartier bei einer Familie, die ihn freundlich-wortkarg bei sich aufnimmt. Vielleicht liegt im Erweis des Erstaunens Krechels größtes Kunststück: Der Richter für zivile Angelegenheiten bringt die untadelige Normalität der Menschen, die ihm Kaninchenfleisch und Käsekuchen reichen, mit seiner inneren Unruhe in keine Übereinstimmung.

Produkt der Trennung

Claire reist Richard nach. Die Zeit wandert sukzessive fort in die 1950er-, 1960er-Jahre. Die Ehe der Kornitzers ist das Produkt einer unlebbaren Erfahrung. War man jahrelang getrennt, so ist man nun in der Erfahrung des Leides miteinander vereint. In einer lang anhaltenden Bewegung dehnt und streckt Krechel ihre Prosa. Kornitzers Anschauungsformen sind die eines Rechtsgelehrten. Er ist unfähig, sich über seine Wahrnehmungen anders als juridisch Auskunft zu geben. Auf der Strecke bleibt die Empathie.

Es gehört zu den nicht geringen Vorzügen dieses großen Buchs, die Blickrichtung nach zwei Seiten hin offen zu halten. Indem Kornitzer um die Wiedergutmachung der ihm angetanen Verbrechen ringt, verliert er sein Gegenüber - die bundesrepublikanische Bürokratie und ihre Antriebe - zusehends aus dem Blick. Umgekehrt waschen die Rechtsnachfolger der Nazi-Dikatur ihre Hände in Unschuld. Der Abgrund, der sich zwischen beiden Standpunkten auftut, ist unüberbrückbar. Im Kern, so zeigt Krechel, ist die Verstörung der Opfer nicht kommunizierbar.

Probleme wirft der Roman dann auf, wenn er meint, den empörenden Tatbestand wieder und wieder neu - und nur geringfügig anders - orchestrieren zu müssen. Es gibt kaum eine Technik der Beschreibung, die der gelernten Lyrikerin Krechel nicht zu Gebote stünde.

Die Kapitel über Kornitzers Exil auf Kuba sind Meisterstücke der Erzählkunst. Und doch lädt Krechel ihre sprachlichen Bilder immer wieder mit Begriffen auf, als misstraue sie der Anschaulichkeit: "Eine unendliche Kette von Anpassungsleistungen wurde von ihr erwartet ...": Muss es wirklich die "Kette" sein, wo vielleicht die schlichte "Folge" es auch getan hätte? Wie weist man besagte Kette gegenüber erwartungsfroh Gestimmten vor? Kleine Einwände, die den Wert eines großen, verstörenden Buches kaum zu schmälern in der Lage sind. (Ronald Pohl, Album, DER STANDARD, 6./7.10.2012)