"Jedes Wort kann Zauberkraft entfalten, wenn Du es nur richtig anzuwenden weißt": A. L. Kennedy.

Foto: Standard/Regine Hendrich

Denken Sie sich eine Zahl zwischen eins und zehn. Haben Sie gewählt? Ist es die Sieben? Ja? Dann gehören Sie zur statistischen Mehrheit von Menschen, die sich für diese Zahl entscheiden. Auch Elizabeth Barber, von allen Beth genannt, gibt die Sieben zur Antwort, als sie in einer Warteschlange stehend vom Mann hinter sich zu diesem lustigen Spielchen aufgefordert wird.

Die junge Frau und ihr langweiliger Freund Derek gehen soeben an Bord eines Kreuzfahrtschiffes, das während der nun folgenden Romanzeit den Atlantik überqueren wird. Der sich aufdrängende Mann stellt sich bald als Arthur Lockwood vor und wird weiterhin für allerhand Rätselhaftes sorgen.

Das Blaue Buch, das neue, in vielerlei Hinsicht magische Werk der schottischen Kultautorin A. L. Kennedy, spielt gewieft mit Tricks und Täuschungen, Irrealem und Unklarem. Immer wieder sind es die scheinbar nebensächlichen Situationen und Handlungen, die dann wesentlich werden: " Jedes Wort kann Zauberkraft entfalten, wenn du es nur richtig anzuwenden weißt." Man muss genau aufpassen.

Es beginnt, na klar, auf Seite sieben: "Aber hier ist es, das Buch, das du liest." Es ist die etwas lehrmeisterhafte Stimme "deines Buches", die dir erklärt, dass es auch auf Äußerlichkeiten ankommt. Und tatsächlich steht das geheimnisbergende Blue Book, natürlich in blauem, schlichtem Umschlag, in einem wechselseitigen Verhältnis zwischen seinem Aufbau und dem narrativen Innenleben. Das Buch reflektiert sich durch dieses ominöse Du selbst als Medium.

Was hat es mit der gleich ins Auge stechenden doppelten Paginierung der Seiten auf sich? Wir ahnen etwas, als Arthur obiges Spiel durchführt und Beth bittet, die Seite acht aufzuschlagen. Der neugierige Leser blättert zurück und siehe da: es gibt keine acht, sondern zweimal die "durchs Papier gesickerte" Sieben. Überlistet.

Die "falsch" nummerierten Seitenzahlen sind Zahlencodes, die die beiden Hauptfiguren entwickelten und mit denen sie sich über Jahre hinweg verständigten. Mit der Zeit können die Leser mitentschlüsseln. Arthur und Beth haben eine berufliche und sexuelle Vergangenheit, ihr (vermeintlich) zufälliges Treffen ist ein unerwartetes Wiedersehen nach langer Zeit. Auf hoher See lernen sie sich zwischen Buffet und Nobelsuite neu kennen; der arme Derek wird seekrank und muss tagelang mit Übelkeit im Bett bleiben.

In Rückblenden und Erinnerungen erfahren wir nach und nach von den Geschäften, mit denen Arthur reich geworden ist. Als Mentalist nützte er die Zerbrechlichkeit gutgläubiger Menschen aus und betrog Witwen, indem er als "fake medium" vorgab, mit ihren Verstorbenen zu kommunizieren und viel Geld einsackte. Der Schwindler rechtfertigt sich, mit guten Absichten zu lügen und einen "Sozialstaat des Jenseits" errichten zu wollen.

Weniger zwielichtig erscheint da die ernsthafte, geistvolle, verletzliche Beth, die seine Assistentin war. Ihrer Perspektive folgen wir in kursiv gesetzten Gedankengängen, mal mit fettgedruckten Schlagwörtern oder prägnanten Sätzen, mal mit einfühlsamen, kryptischen Gefühlstiraden.

Wer sich von der Literatur erwartet, sie sollte Figuren erschaffen, in die man sich hineinversetzen kann, mit denen man mitfühlen, mitagieren darf, den wird A. L. Kennedy enttäuschen. Ihre Charaktere bleiben auf merkwürdige Weise distanziert; man kommt nicht richtig an sie heran. Das führt die Autorin, selbst Professorin für Kreatives Schreiben, bestechend aus, zumal es dem zentralen Thema Zauberei entspricht.

Alison Louise Kennedy, 2007 mit dem Österreichischen Staatspreis für europäische Literatur ausgezeichnet, benutzt Mittel des magischen Realismus und schlingert durch neblige Lebensgeschichten zwischen Wirklichkeit, Fantasie und Manipulation. Recherchiert hat sie beim berühmten britischen Mentalisten Derren Brown, den sie in der " Danksagung" erwähnt.

Langsam und komplex baut die Verschlüsselungskünstlerin ein aus mehreren Handlungsebenen und starken Bildern bestehendes Erzähluniversum. Als eine der wichtigsten schottischen Autorinnen der Gegenwart verhandelt die 1965 in Dundee Geborene mit ausgefeilter Stilistik und behänder Leichtigkeit wie nebenbei große Themen wie Schmerz, Verlust, Gewalt und Schuld. Das Blaue Buch, sorgfältig von Ingo Herzke übersetzt, wehrt sich, in einem Zug ausgelesen zu werden, es hält den Leser zurück, lässt ihn in Vermutungen zappeln, liefert überraschende Wendungen; dass es dennoch Längen hat, macht die Annäherung streckenweise schwierig. Im Mittelpunkt steht eine auf Zahlencodes basierende Liebesgeschichte schrulliger Einzelgänger, die Kennedy so unsentimental wie möglich erzählt.

Dass es gegen Ende hin dennoch kitschig wird, dient wohl der Vorbereitung auf den finalen Gewaltakt: Seite 0 als Tief- bzw. Endpunkt; doch dann: 1! Wieder einmal stirbt die Hoffnung zuletzt. Übrigens: Die codierte Sieben bedeutet, na klar, Liebe. (Sebastian Gilli, Album, DER STANDARD, 20./21.10.2012)