"Religion ist ein bekenntnis-orientiertes Fach. Ethik ist eine philosophische Disziplin."

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STANDARD: Berlin hat mit 2006 verpflichtenden Ethikunterricht für alle Schüler der 7. bis 10. Klasse (zwei Wochenstunden) eingeführt. Gab es dafür einen konkreten Anlass?

Zimmermann: Ja, konkreter Anlass war die Ermordung der 23-jährigen Hatun Sürücü im Februar 2005 durch ihren jüngsten Bruder. In Berlin aufgewachsen, wurde sie mit 16 mit einem Cousin in Istanbul zwangsverheiratet, sie überwarf sich mit der strenggläubigen Familie ihres Mannes, kehrte schwanger nach Berlin zurück, legte dort den Schleier ab, bezog eine eigene Wohnung, holte den Hauptschulabschluss nach und machte eine Lehre als Elektroinstallateurin. Da dieser Mord im Internet auch verklärt wurde, wurde immer lauter gefordert, man müsse " westliche Werte" wie Toleranz und Gewaltfreiheit stärker vermitteln.

STANDARD: Gibt es auch Berlin-Spezifika?

Zimmermann: Berlin galt schon lange als säkulare Stadt, in der der Prozentsatz der nicht konfessionell gebundenen Einwohner doppelt so hoch ist wie im gesamten Bundesgebiet (61 Prozent gegenüber 32 Prozent). Die konfessionell gebundenen Einwohner verteilen sich auf über 140 eingetragene Religionsgemeinschaften. Schon durch das Grundgesetz wird Berlin – neben Bremen – von der Verpflichtung ausgenommen, Religion als ordentliches Schulfach einzurichten.

STANDARD: Wie wurde Ethik aufgenommen?

Zimmermann: Die Forderung nach einem neuen Werteunterricht wurde insgesamt positiv aufgenommen, die Oppositionsparteien machten aber schnell einen Gegenentwurf und forderten die Einrichtung eines Wahlpflichtbereichs, in dem die Religionen als Alternativfächer aufgenommen waren. So kam es zur folgenschweren Gegenüberstellung von gemeinsamem Werteunterricht und einem nach Religionen und Weltanschauungen getrennten Werteunterricht. Es folgten heftige Debatten, weil gegen ein staatliches verbindliches Wertefach erhebliche Vorurteile bestanden. Sie gründeten in der Skepsis gegenüber staatlicher Indoktrination (Nationalsozialismus, Staatsbürgerkunde und Marxismus-Leninismus in der DDR) und in der Skepsis gegenüber der Philosophie, die in Berlin erst seit 2004 ordentliches Schulfach ist und lange Zeit als staatsgefährdende Ideologie in der Tradition der Studentenbewegung (v. a. Kritische Theorie), angesehen wurde.

STANDARD: Wie reagierten die Kirchen auf Pflicht-Ethik?

Zimmermann: Der Berliner Senat hat sich verpflichtet, alle Belange, die irgendwie den Religionsunterricht in Berlin berühren, in einer gemeinsamen Kommission (katholische Kirche, evangelische Kirche, Staat) zu besprechen. Diese Kommission wurde vor dem Parlament, das ja eigentlich der Auftraggeber war, über die Planung (Name, Fachprofil, Rahmenlehrplanentwurf) informiert. Sie hatten sich aber schon aufseiten von CDU und FDP und ihrer Forderung nach einem Wahlpflichtbereich gestellt und lehnten jede Mitarbeit an dem neuen Fach ab.

STANDARD: Religionsvertreter sagen oft, das, was Ethik leistet, leistet Religionsunterricht schon lange, Wertevermittlung etc.

Zimmermann: Ich halte die Gegenüberstellung von Ethik und Religion für fatal. Im Zusammenhang mit beiden Fächern wird das Wort Wertevermittlung verwendet, es meint aber jeweils etwas grundsätzlich anderes. Religion ist ein bekenntnisorientiertes Fach, das ein festgelegtes Werte- und Normensystem vermittelt. Über andere Auffassungen wird gesprochen, aber sie sind immer schon Verlierer im Vergleich. Ethik ist eine philosophische Disziplin. Da geht es um einen Dialog unterschiedlicher moralischer Überzeugungen mit dem Ziel der Verständlichmachung, der Suche nach einer gemeinsamen Basis für das Zusammenleben, und das Nachdenken über Sinnvorstellungen. Es geht also vorwiegend um den Erwerb einer philosophischen Argumentationskompetenz.

STANDARD: Hat der Ethik-Unterricht Auswirkungen auf den Religionsunterricht?

Zimmermann: Religionsunterricht ist in Berlin ein freiwilliges, staatlich finanziertes Unterrichtsangebot der Religionsgemeinschaften in den Räumen der Schule. Der Staat hat zwar die Aufsichtspflicht darüber, dass Inhalte und Methoden mit den Grundprinzipien der Verfassung konformgehen, die Rahmenlehrpläne werden vom Staat geprüft, aber es gibt keine Noten, das Fach ist nicht versetzungsrelevant. Die zwei christlichen Kirchen haben immer als schwerstes Argument gegen den Ethikunterricht genannt, dass damit Religion aus der Schule verbannt würde. Tatsache ist aber, dass der Ethikunterricht eher das Interesse an Religion geweckt hat, sodass nach einem kurzen Rückgang die Teilnehmerzahlen am Religionsunterricht zugenommen haben.

STANDARD: Wer lehrt Ethik?

Zimmermann: Da das Studienfach Ethik an den Hochschulen erst eingerichtet werden musste, kommen jetzt erst langsam die ersten Absolventen. Außerdem dürfen alle Philosophielehrer Ethik unterrichten. Als Übergang wurden über 1000 Lehrkräfte mit anderen Fächern in einem drei Semester dauernden Kurs mit sechs Wochenstunden berufsbegleitend weitergebildet. Die Berliner Religionslehrkräfte sind bei den Religionsgemeinschaften beschäftigt, also keine staatlichen Lehrkräfte. Sie dürfen das Fach Ethik nicht unterrichten, da sie keine fachliche Qualifikation haben und keine Noten geben dürfen. Ausgenommen sind staatliche Lehrkräfte, die auch das Fach Religion haben. Sie dürfen nach Besuch der Weiterbildung Ethik auch Ethik unterrichten.

STANDARD: Was soll Ethik-Unterricht leisten?

Zimmermann: Der Ethikunterricht soll etwas ganz anderes sein als die übrigen Schulfächer: ein Denkraum, in dem ausgehend von persönlichen und gesellschaftlichen Fragestellungen und Konflikten nach Lösungen gesucht wird, die von Schülern unterschiedlicher religiöser und kultureller Zugehörigkeit akzeptiert werden können. Der Ethikunterricht soll wertgebunden sein, insofern als die Lehrkraft ihre Überzeugung vertreten soll und Wertsetzungen in die Argumentation des Ethikunterrichts einfließen. Er soll aber auch "weltanschaulich neutral" sein, indem viele Weltanschauungen und Religionen zur Sprache kommen und daraufhin geprüft werden, ob sie als Basis für unterschiedlich denkende Menschen geeignet sind. Es geht nicht um die Vermittlung einer Überzeugung, die Überzeugung der Schüler ist nicht Gegenstand der Bewertung.

STANDARD: Wie wird Ethik beurteilt?

Zimmermann: Bewertet wird im Ethikunterricht, inwieweit die Schüler in der Lage sind, ethisch zu reflektieren, das heißt inwieweit sie die philosophische Methode der Reflexion beherrschen. Konkret bedeutet das, dass sie in der Lage sind, zu verschiedenen Themen und Materialien ethische Fragen zu stellen (z. B.: Was bedeutet das für ...?), sich Hintergrundinformationen zu besorgen und verschiedene Standpunkte daraufhin zu prüfen, auf welche Prämissen sie zurückzuführen sind.

STANDARD: Wie viel hat die Einführung des Ethik-Unterrichts in Berlin gekostet?

Zimmermann: Leider hat das Parlament kein Geld für die Einführung des Faches bewilligt. Da die Stundenzahl nicht erhöht wurde, sondern die Stundenanteile der einzelnen Fächer neu verteilt wurden, fiel der entsprechende Teil für Unterrichtsmaterialien und Lehrerstunden an Ethik. Ethik ist unter hohem Zeitdruck eingeführt worden, weil im August 2006 die Schulzeit bis zum Abitur von 13 auf zwölf Jahre verkürzt wurde. Die Stunden des 13. Jahrgangs mussten auf die übrigen zwölf Jahre verteilt werden. Dabei wurden einige Fächer gestärkt (z. B. Mathematik/Naturwissenschaften), andere leicht gekürzt (Musik/Kunst/Sozialkunde).
(Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, 19.11.2012)