In der Schule gibt es schon Computerlabors, zu Hause bei Familie Canuta nicht einmal elektrisches Licht.

Foto: Habitat for Humanity

Fernfahrerkolonnen und Pferdegespanne wechseln sich ab auf der Nationalstraße 3, die von Bukarest nach Osten führt. Rechts und links eine Abfolge von Grasland, Häusern in allen Zuständen des Bauens und Zerfallens, Autoschrott, Schafherden, brandneuen Fabriken und Fabrikruinen, streunenden Hunden. Das Bild eines Landes im Umbruch. Fundulea, ein 6000-Seelen-Ort rund 40 Kilometer östlich von Bukarest, der von der Nationalstraße durchschnitten wird, liegt an der Bruchlinie zwischen Stadt und Land.

Die meisten Nebenstraßen sind nicht asphaltiert. Hinter neureich anmutenden Villen stößt man auf Behausungen, die man in einem EU-Land nicht erwarten würde. So wie die Hütte aus Lehm und Karton, in der Marian und Tudori?a Canuta mit ihren vier Töchtern und zwei Söhnen bis vor kurzem wohnten: ein einziger Raum mit zwölf Quadratmetern, ohne Heizung, Strom und Wasser.

In der Schule lernen die Kinder schon am Computer, Achtklässler Daniel Canuta ist Klassenbester. Doch im Dorf wird die Familie, obwohl alteingesessen, geschnitten, Vater Marian schlägt sich als Tagelöhner durch. Das wird sich bald ändern: Der kleine, sonnengegerbte, schüchtern wirkende Mann, mit einem Bauhelm vor seinem neuen fast fertigen Haus, an das er selbst Hand angelegt hat.

Ermöglicht wurde das einfache Haus mit drei Zimmern durch die Kooperation der Hilfsorganisation Habitat for Humanity mit dem österreichischen Ziegelhersteller Wienerberger. Es ist eines der ersten von 140 Eigenheimen, die im Rahmen dieses Joint Venture in den nächsten drei Jahren in Rumänien entstehen sollen.

"Die Grundbedingung ist für uns, dass die Bewohner mindestens 1000 Stunden selbst an ihrem Haus arbeiten", erklärt Emil Olteanu, Direktor von Habitat for Humanity Rumänien. Dazu gibt die 1976 in den USA gegründete Organisation Mikrokredite, die mit niedrigen Zinsen zurückgezahlt werden. Bei den Canutas, für die das völlig illusorisch ist, machte man eine Ausnahme. "Diese Einzelprojekte sind wichtig, um Bewusstsein in der Öffentlichkeit zu schaffen" sagt Olteanu. "Denn dies ist nur die Spitze des Eisbergs. In Rumänien leben mehr als 600.000 Familien in solchen Zuständen."

Kein eigenes Bad

Rund ein Fünftel der 19 Millionen Rumänen lebt unter der Armutsgrenze, obwohl vielen von ihnen - so auch den Canutas - der Grund und Boden gehört, auf dem sie wohnen. Ein rumänisches Phänomen: 97 Prozent der 8,5 Millionen Wohnungen, von denen die meisten nach der Revolution als Wahlkampfgeschenk im Freiheitsrausch zu günstigen Preisen an die Bewohner verkauft wurden, sind in Privatbesitz. Das rächt sich spätestens dann, wenn es gilt, Wohnblocks der 1960er-Jahre zu sanieren, die Dutzenden von weitgehend mittellosen Eigentümern gehören. Noch heute haben 40 Prozent aller Wohnungen kein eigenes Bad.

Die Wohlstandsschere geht dabei immer weiter auseinander: Während sich im Norden Bukarests eingezäunte Nobelsiedlungen mit Namen wie "Oxford Gardens" und englischsprachige Schulen aneinanderreihen, wohnen im Süden an die 100.000 Roma unter Slumbedingungen.

Gespalten scheint im Vorfeld der Parlamentswahlen am 9. Dezember auch die Politik: Die Abgehobenheit der Politikerkaste war, so der Tenor in Bukarest, einer der Gründe für die teils gewalttätigen Proteste in der Hauptstadt am Anfang dieses Jahres. Verglichen mit den existenziellen Problemen der Bevölkerung scheinen die teils absurden Machtspiele, die sich Präsident Traian Basescu und Premierminister Victor Ponta dieses Jahr lieferten, in einer entfernten Parallelwelt abzulaufen.

In Fundulea, wo Marian Canuta zusammen mit den freiwilligen Helfern gerade die Wärmedämmung auf sein neues Heim montiert, merkt man von der Bukarester Politik nichts. Der Familienvater ist froh, dass ihn die Dorfbewohner respektieren und keine Steine mehr auf sein Haus werfen.

Für ihn ein Hoffnungsschimmer, für Rumänien ein Tropfen auf den heißen Stein: Für die greise Nachbarin der Canutas, die alleine in einer verkohlten Ruine zwischen einem Berg Kleider und einem Berg Müll haust, wird es auch nach dem 9. Dezember ein kalter Winter sein. (Maik Novotny, DER STANDARD, 4.12.2012)