Bereits in ihrer Biografie über die Beziehung von Sylvia Plath und Ted Hughes hatte die Autorin gezeigt, dass literarische Werke einen hohen, auch lebensgeschichtlichen Erkenntniswert haben.

Publius Ovidius Naso, genannt Ovid, ist für eine Biografin eigentlich ein hoffnungsloser Fall. Es gibt fast keine Daten und Quellen über sein Leben. Diane Middlebrook, im Jahr 2007 verstorbene Literaturwissenschafterin an der Stanford University, liebte solche Herausforderungen. Für ihre erste Biografie über die Bekenntnislyrikerin Anne Sexton wertete sie psychoanalytische Sitzungen aus - eine ungewöhnliche, ja kontroversielle biografische Quelle. In der zweiten, über die transsexuelle Jazzmusikerin Billy Tipton, deren Geheimnis auch von mehreren Ehefrauen nicht entdeckt wurde, war sie mit einem Leben als Versteckspiel konfrontiert.

Bei Ovid nun lag außer dem Gedichtwerk mit weltliterarischer Geltung fast gar nichts vor. Also stützte sie sich auf die Lyrik und verstieß damit zunächst gegen die Grundregel, dass literarische Texte nicht für literaturfremde Zwecke kannibalisiert werden dürfen. Man mag das mit der Tatsache entschuldigen, dass keine anderen Quellen vorlagen, aber bei Middlebrook lässt sich auch eine andere Strategie erkennen: Bereits in ihrer dritten (Doppel-)Biografie über die überaus kontroversielle Beziehung von Sylvia Plath und Ted Hughes hatte sie gezeigt, dass literarische Werke - und insbesondere Lyrik - hohen, auch lebensgeschichtlichen Erkenntniswert haben können.

Dabei geht es natürlich nicht um Faktenklauberei. Die Theorie hinter diesem Vorgehen ist vielmehr, dass sich auch das biografisch relevante Leben nur über Texte (üblicherweise Briefe, Tagebücher, Interviews usw.) erschließt. Auch bei der Lyrik handelt es sich um Texte. Da ihnen Autoren besonders viel Sorgfalt widmen, ist nicht einzusehen, warum sie bei einer Biografie keine Berücksichtigung finden sollten. Die Frage ist lediglich, wie sich eine oberflächliche Lektüre von Literatur als " Spiegel" eines Lebens vermeiden lässt.

Middlebrook verfolgt eine Doppelstrategie. Einerseits spürt sie der Konstruktion des Selbst in der Lyrik Ovids nach, der Art, wie das " lyrische Ich" sich selbst erfindet und seinen Wandel reflektiert. Dabei sind nicht nur offensichtlich autobiografisch klingende Momente von Bedeutung, sondern auch Verse über Literatur und Kreativität, die sich mittelbar auf das schreibende Ich beziehen. Die Sensibilität, mit der Middlebrook dabei die Lyrik Ovids interpretiert, ist außergewöhnlich. Ihr biografisches Projekt eröffnet damit auch Zugänge zum Werk dieses Schriftstellers. Andererseits setzt sie die Lyrik in Bezug zu Texten aus Ovids Zeit und platziert den Autor damit in einem außergewöhnlich dichten Netzwerk, das ein faszinierendes Bild der römischen Antike vermittelt. Für alle vormaligen Lateinschüler ist Middlebrooks Buch auch eine Möglichkeit der Wiederbegegnung mit dem großen Römer.

Diese Biografie, ursprünglich angelegt als Leben Ovids an sieben entscheidenden Tagen seiner Entwicklung, ist unvollendet geblieben. Wie ihr Ehemann und literarischer Kooperateur Carl Djerassi in seinem Vorwort auf berührende Weise darstellt, sind große Teile des vorliegenden Buchs im Kampf gegen eine nicht heilbare Tumorerkrankung erschienen. Vor dem Hintergrund dieses Leidens sind die vorliegenden drei Kapitel des nun bloß "jungen" Ovid - Geburt, Adoleszenz, Ehe und literarische Berufung - sowie ein Fragment, das am Geburtstag des 46-Jährigen spielt, von besonderer Bedeutung. Man erahnt einen Zusammenhang zwischen Middlebrooks Leidensweg und der tragischen, lebenslangen Verbannung Ovids ans Schwarze Meer an der Peripherie des Reichs.

Im Deutschen macht Barbara von Bechtolsheims ansprechende Übersetzung - die deutschsprachige Ausgabe ist gleichzeitig die Erstausgabe dieser Biografie - den Eindruck stiller Gelassenheit. Das erleichtert die Aufnahme des Neuen - etwa die sehr explizite Schilderung der radikal unterschiedlichen Rituale bei der Geburt Ovids - und vermittelt Zugang zu einer uns fremden Welt. Es ist vielleicht Middlebooks größtes Verdienst, dass sie das vertraute antike Rom aus dem Liber Latinus oder anderen Lehrbüchern verfremdet - und uns damit erlaubt, es neu zu sehen. Gleichzeitig ist sie in der Lage, die lyrischen "Erzählungen" Ovids als Teil unserer Welt zu erfassen. Zu den Amores heißt es: "Gleichsam wie in einem Film wird der Leser Zeuge, wie er auf dem Weg der sexuellen Reifung allmählich ein erwachsener Mann wird - eine Geschichte von höchster Relevanz für die westliche Kultur."

Auch diese Verknüpfung hatte Middlebrook im Auge. Als österreichischen Beitrag zur Ovidrezeption schenkte ich ihr Ernst Fischers Ausgabe fingierter Ovid'scher Elegien aus dem Nachlass (1953), mit der zumindest ein Teil der DDR-Zensur kurze Zeit gefoppt wurde. In Bezug auf Fischers Anspielungen auf die Situation in den sozialistischen Ländern, die er gar nicht so versteckt in dieses Buch packte, sagte mir Diane Middlebrook, genau das sei ein gutes Beispiel für ihren Versuch, Ovids enormen Stellenwert im weltliterarischen Spektrum zu verstehen.

Leider ist auch das nicht mehr gelungen - umso mehr muss man den Beteiligten, insbesondere dem Verlag müry salzmann, danken, dass sie uns das Werk in dieser verkürzten bibliophilen Ausgabe zugänglich gemacht haben. (Walter Grünzweig, Album, DER STANDARD, 7./8./9.12.2012)