Lebenssuche und Archäologie der Gegenwart: Paul Nizon 2009 in Wien.

Foto: Marko Lipus

"Ohne tägliches Schreiben verkomme ich", notiert Paul Nizon am 22. April 2008. Die Journale gehören deshalb ins Zentrum seines Lebens und seines Werkes. Das tägliche Schreiben, das er das "verantwortungslose" nennt, geschieht in den Verwerfungen zwischen beiden. Die "Mäntel", die Nizon in den fiktionalen Büchern trägt, öffnen sich in den Journalen zumindest ein bisschen. Aber selbst hier wird die unermüdliche Spracharbeit sichtbar, die allein Leben schafft. Nizons Greifen nach dem Absoluten der Kunst wird auf dem Hintergrund des alltäglichen Geschiebes erst recht deutlich - und erhält angesichts des viel wahrscheinlicheren Scheiterns noch mehr Glanz, wenn es sich denn einmal erfüllt.

So durchzieht die Genese des 2005 erschienenen Romans Das Fell der Forelle wie ein goldener Faden das fünfte Journal, das die Jahre von 2000 bis 2010 umfasst. Es sind schwierige Jahre, geprägt von der Trennung von Odile, Nizons dritter Ehefrau. Literarisch könnte man sie als eher magere betrachten. Aber ein Vielpublizierer war der Vielschreiber Nizon nie. Gerade deshalb lässt dieser Band einen ruhigen und genauen Blick auf seine schöpferische Arbeit zu: das Ergründen des Stoffs, das Aufnehmen der Fährten, das "Einwarten" des Tons, dann das fast unerwartet sich einstellende "Ereignis" des Schreibens - mit der anschließenden glücklichen Müdigkeit eines Staunenden. Mit depressiven Erschöpfungszuständen auch, in denen jedoch die Inkubation von neuem oder bisher Unerledigtem erfolgt wie jetzt etwa das "Salve Maria" -Projekt, das auf Nizons Erstling, den Roman Canto, zurückgeht.

Rom, die Ewige Stadt, buchstäblich. Die vielleicht nicht immer leicht zu ertragende Beharrlichkeit Nizons ist in den von ihm ausgewählten Journaleinträgen vielfach begründet. Rom ist eine Metapher dafür. Auffallend oft kehrt Nizon dahin zurück, wo er 1960 als Stipendiat gelebt und sich mit dem Canto als Schriftsteller selbst zur Welt gebracht hat. Rom bleibt Wiege und Nucleus seines Werks. Und doch immer unerreichbar. Rom ist Hunger und Sättigung. Rom ist Sünde und Absolution. In Paris hat Nizon sich etabliert, auch wenn er gerade im Fell der Forelle wieder in die dramatische Zeit des ungewissen Ankommens zurückkehrt. Rom hingegen ist der nie zu schreibende "Lebensroman". Rom ist das uneingelöste Versprechen, das "andere Leben" - und soll es bleiben. Rom ist die Ration, von der man sich so lange nährt, solange man nicht von ihr lebt.

Es geht aber um Nizon. Um das Uneingelöste in seinem Leben. Eine andere Metapher, die im Journal immer wieder auftaucht, ist die "leere Seite", die am Anfang jedes seiner Bücher steht. Sie stammt nicht von Nizon selbst, aber er nimmt sie auf wie einen Schlüssel, der ihm die Kammer seiner Jugend öffnen soll.

Als versteckte sich in ihr, in einer familiären "Herkunftslosigkeit", die Erklärung seines Schreibens. Vielleicht etwas gar gläubig webt er den psychologisierenden Faden. Er genügt ihm ja dann zum Glück doch nicht. Als ein "Archäologe der Gegenwart" ist er auch nicht an Abrechnungen mit der Vergangenheit interessiert. Wenn er gräbt, dann nach Saatgut, das im Schreiben aufgehen kann als Leben.

Wenn Abrechnung, dann mit dem Jetzt, selbstironisch, durchaus ernst. Manchmal erinnert er in seinem Journal an einen Gutsbesitzer, der allmorgendlich ausreitet, den Zustand seiner Ländereien zu sichten. Summa summarum halten sich in den zehn Berichtsjahren Soll und Haben die Waage. Der Großschriftsteller, der er sein möchte (aber doch nicht wirklich!), ist er zwar immer noch nicht. Aber es gibt unter dem Strich genügend Akquisitionen zu verbuchen, die das schon ansehnliche Gütchen abrunden: da eine Huldigung, dort ein Preis, da eine Feier, dort eine neue Übersetzung oder Edition. Solch akkurate Eitelkeit darf einen belustigen, manchmal scheint es, als tue sie es Nizon selbst auch. Die Abbuchungen des Alters, der Abschiede und Verluste - ständig stirbt wieder einer weg von den Freunden - nimmt er jedenfalls mit bewundernswerter Nüchternheit vor.

Die Buchhalterei hat zudem ein ganz und gar uneitles Innenfutter. Nizons Selbstverständnis des Künstlers als eines nur sich selbst verantwortlichen Einzelnen erzwingt geradezu die akribische Überprüfung von Verwandtschaften und Bündnissen (im Zentrum des Interesses immer wieder Handke) mit entsprechenden Neuverhandlungen und Kündigungen. Die minutiöse Selbstvermessung und Lustration des Werks sind Ausdruck jener existenziellen Unsicherheit, die Nizon zum Schreiben als einer " Autofiktion" benötigt. Es scheint jedoch, als zeige gerade sie in diesem Journal mit dem dramatischen Titel Urkundenfälschung nun öfters ihre Rückseite: der Künstler als Delinquent.

Auf welcher Seite der Bilanz das jedoch nun zu verbuchen ist, bleibt offen. Auf jeden Fall bedeutet es: Das Schreiben, das Leben geht weiter, beharrlich, ironisch - "Ich werde einfach über das Dezennium hinaus weiter notieren und dann, wenn das Notieren und mein Leben aufhören, einen Nachfolgejournalband auftischen und publizieren können. Doch zuerst der Roman." So der Eintrag am 22. Dezember 2009. (Samuel Moser, Album, DER STANDARD, 15./16.12.2012)