Je mehr Kinder für etwas beachtet werden, desto mehr fühlen sie sich zu Wiederholungen animiert.

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Im Frühjahr bestreitet Jesper Juul Vorträge und Workshops in Österreich.

Foto: Family Lab

Diese Serie entsteht in Kooperation mit Family Lab Österreich.

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Eine Userin schreibt:

Ich bin Jahrgang 1945 und ich finde, dass das Verhalten meiner Enkelkinder am Esstisch sehr zu wünschen übrig lässt. Mein Enkelsohn ist 15 Monate alt. Seit er sehr klein ist, wird ihm sein Essen in einer Schüssel serviert. Er wird von den Eltern fast dazu animiert, mit seinen Fingern darin zu wühlen. In kürzester Zeit ist er von oben bis unten mit Reis, Sauce oder Brei bedeckt. Das Essen ist überall, in seinen Haaren, auf seiner Kleidung und der Fußboden sieht aus, als hätte jemand einen Mülleimer ausgekippt.

Kürzlich gab es Lasagne. Mein Enkel hat sie nicht einmal probiert, sondern sofort auf den Boden geworfen. Daraufhin wurde ihm Kartoffelpüree mit Sauce serviert, was ebenfalls auf dem Boden landete. Zu guter Letzt bekam er ein belegtes Brot. Auch davon landete der Großteil auf dem Boden.

Zu keinem Zeitpunkt wurde ihm erklärt, dass er sein Essen nicht auf den Boden werfen soll. Meiner Meinung nach sollte ein 15 Monate altes Kind ein "Nein" bereits verstehen. Wenn ich den Eltern vorschlage, dass sie noch ein bisschen warten sollten, bis sich die Feinmotorik meines Enkels besser entwickelt hat, werde ich zurückgewiesen. Sie antworten, dass das Kind sein Essen fühlen und seine Beschaffenheit erkunden soll.

Ich weiß, dass viele Großeltern ähnliche Erfahrungen machen. Bin ich altmodisch?

Jesper Juul antwortet:

Sie haben recht: Sie teilen diese und auch manch andere frustrierende Erfahrung mit vielen Großeltern. Es geht dabei nicht nur um die Tischmanieren oder Essgewohnheiten.

Ein Essen ist erst dann ein gutes Essen, wenn es allen um den Tisch Versammelten gut geht, die Großeltern mit eingeschlossen. Sie haben in der beschriebenen Tischszene gesagt, was Sie denken. Sie können und sollten nicht mehr als das tun. Manchmal müssen wir als Großeltern geduldig warten, bis wir um Rat gefragt werden.

Ihr Sohn und Ihre Schwiegertochter haben etwas über Kinder und Essen gelernt: Dass es nämlich wichtig für Kinder ist, die Beschaffenheit ihres Essens zu begreifen. Dabei handelt es sich allerdings um eine Erkenntnis über die Beziehung zwischen dem Kind und dem Essen. Mit der Beziehung zwischen den Eltern und ihrem Kind hat das nichts zu tun hat. Dabei ist die viel wichtiger.

Kinder brauchen Begleitung

Die Eltern mögen nicht Ihrer Meinung sein. Das heißt aber nicht, dass sie gerne auf dem Boden knien und diesen aufwischen. Sie wissen nur offenbar nicht, wie sie die Situation anders lösen sollen, weil sie überzeugt sind, das Richtige zu tun.

Wenn ein 15 Monate altes Kind so isst, wie Sie es beschreiben, braucht es noch etwas Zeit in seiner Entwicklung. Es hat schlichtweg noch keine Anleitung von seinen Eltern bekommen. Kinder sind sehr verschieden und entwickeln sich ganz unterschiedlich. Manche Kinder werfen ihr Essen mit acht Monaten auf den Boden, während es anderen leicht fällt, in diesem Alter mit einem Löffel zu essen.

Kinder lernen auf zwei Arten

Grundsätzlich lernen Kinder auf zwei Arten: Durch eine ihnen angebotene Begleitung oder durch Beobachten und Nachahmen dessen, was die Erwachsenen um sie herum tun. Ich verwende absichtlich das Wort "Begleitung" und nicht "Erziehung". Und zwar deshalb, weil Erziehen das Lernen eigentlich unmöglich macht - oder zumindest verlangsamt.

Wenn das Kind hungrig ist, aber das Essen am Fußboden landet, dann braucht es Begleitung. Das heißt in diesem Fall, dem Kind zu zeigen, wie es sein Essen zum Mund führt, damit es auch im Bauch landet. Begleitung bezieht sich also auf den kindlichen Wunsch, etwas zu tun und seinen Willen zum Nachahmen.

Begleitung drückt Werte der Eltern aus

Begleitung drückt im Wesentlichen die Werte und Normen der Eltern aus. Wenn die Eltern diese klar und freundlich formulieren, wird das Kind kooperieren, sobald es kann. Erziehen drückt dagegen nur den vermeintlichen elterlichen Anspruch auf ein bestimmtes Verhalten aus.

Ihr Enkelsohn bekommt von seinen Eltern keine Begleitung. Höchstwahrscheinlich deshalb, weil ihr Sohn und seine Frau glauben, dass sie ihrem Kind etwas wegnehmen, von dem sie glauben, dass es wichtig sei. Sie sehen keine Alternative zu ihrer jetzigen Form der Erziehung. Die Konsequenz daraus ist, dass sie gar nichts machen. Das ist sehr schade, denn so bleibt das Kind auf der Strecke.

"Unfälle" am besten ignorieren

Je mehr Aufmerksamkeit Kinder bekommen, deren Essen auf dem Boden landet, desto mehr dieser "Unfälle" werden passieren. Je mehr Kinder für etwas beachtet werden, desto mehr fühlen sie sich zu Wiederholungen animiert. Das endet oft in einem frustrierenden Spiel - so wie Sie es beschrieben haben. Es hilft, die "Unfälle" einfach zu ignorieren oder freundlich zu kommentieren und sich dann wieder dem eigenen Essen und dem Gespräch mit den Erwachsenen zu widmen.

Die Beschaffenheit der Eltern

Die Eltern ihrer Enkelkinder verhalten sich wie viele Eltern heutzutage. Manche empfehlen diesen Eltern, Grenzen zu setzen oder unflexible Regeln für das Verhalten bei Tisch einzuführen. Ich jedoch glaube, dass es für Eltern wichtig ist, Charakter zu zeigen und ihren Kindern als reale Menschen zu begegnen. Es ist wichtig für Eltern, die eigenen Vorlieben und Abneigungen zu erkennen und zu akzeptieren. Das gilt auch für Ihre rationalen und emotionalen Seiten.

Kinder müssen nicht nur die Beschaffenheit ihres Essens erforschen, sondern auch die Beschaffenheit ihrer Eltern. Deshalb heißt auch eines meiner Bücher "Grenzen, Nähe, Respekt". Vielleicht können Sie es ja heimlich unter dem Weihnachtsbaum verstecken. (Jesper Juul, derStandard.at, 23.12.2012)