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Ein ausgebranntes Auto in Belfast.

Foto: Reuters/McNaughton

Es war die vierte Krawallnacht in Folge: Auch in der Nacht zum Montag haben Gruppen protestantischer Jugendlicher die Polizei im Ostteil der nordirischen Hauptstadt Belfast mit Wurfgeschoßen und Brandbomben attackiert. Der Sprecher des Polizeiverbands und einzelne hohe Offiziere beschuldigten die illegalen Untergrundverbände der Protestanten, die Gewalt zu koordinieren.

Dutzende Polizisten wurden verletzt, seit der Belfaster Stadtrat am 3. Dezember beschloss, die britische Flagge nicht mehr täglich über dem Rathaus zu hissen, sondern nur noch an gut zwei Dutzend ausgewählten Tagen. Die Proteste bilden den dumpfen Zorn über die bedrohte britische Identität ab, obwohl das nordirische Parlament in Stormont die britische Flagge nicht öfter aufzieht.

Die beiden pro-britischen, unionistischen (protestantischen) Parteien hatten im Vorfeld des Stadtrats-Beschlusses zu Protesten aufgerufen. Doch seit die Straßengewalt außer Kontrolle geraten ist, versuchen sie sich davon zu distanzieren. Am Sonntag trafen sich unionistische Politiker mit Vertretern von protestantischen Kirchen, um einen Ausweg zu finden, doch Demonstrantenvertreter verweigerten die Teilnahme. Vereinzelt fordern sie die Rückkehr zur britischen Direktverwaltung - ein gänzlich chancenloses Unterfangen.

Die Gewaltbereitschaft der protestantischen Unterklasse entspringt dem Gefühl, im Friedensprozess zu kurz gekommen zu sein. Die anfänglich erfolgreichen Versuche, eigene politische Parteien aufzubauen, sind kläglich gescheitert; die beiden etablierten Unionistenparteien vermögen diese Schichten immer weniger zu repräsentieren. Seit dem Friedensabkommen vom Karfreitag 1998 ist es versäumt worden, die in den Institutionen verankerte Zusammenarbeit an die Basis zu bringen. Die Mauern, die Katholiken von Protestanten trennen, sind höher geworden. Die aus der IRA hervorgegangene Sinn-Féin-Partei und die einst von Pfarrer Ian Paisley gegründete Democratic Unionist Party haben Nordirland de facto untereinander aufgeteilt. Sie kümmern sich vor allem um die Wünsche ihrer Klientel, weniger um das Gemeinwohl.

Bei der protestantischen Unterschicht wird die Ohnmacht durch eine Bildungsmisere verstärkt: Nur wenige Jugendliche bemühen sich um eine tragfähige Ausbildung, da ihre Eltern sie dabei kaum unterstützen. Hinzu kommt die Demografie: Die Ergebnisse der Volkszählung von 2011 ergaben, dass 41 Prozent der Bevölkerung einen katholischen Hintergrund aufweisen, 41,8 Prozent einen protestantischen. Das bedeutet nicht, dass es bald eine Mehrheit für die irische Wiedervereinigung gäbe, erhöht aber die Fragilität der protestantischen Identität. (Martin Alioth aus Belfast, DER STANDARD, 8.1.2013)