Belfast - Die nordirische Politik bekommt den Streit um das Hissen der britischen Flagge auf dem Rathaus in Belfast nicht in den Griff. In der Nacht auf Mittwoch kam es zum sechsten Mal in Folge zu Straßenkämpfen, bei denen britentreue Loyalisten die Polizei mit Brandbomben, Flaschen und Steinen bewarfen, wie diese mitteilte. Für Mittwochabend kündigten Loyalisten erneut Proteste an.

Am Morgen war zum ersten Mal seit Ausbruch des Flaggen-Konflikts Anfang Dezember der britische "Union Jack" über dem Rathaus von Belfast gehisst worden. Damit wurde der 31. Geburtstag von Prinz Williams schwangerer Frau Kate, der Herzogin von Cambridge, gefeiert. Am Abend sollte sie wieder abgenommen werden.

Während die britische Flagge bis Anfang Dezember jeden Tag vom Rathausdach in Belfast wehte, wird sie der neuen Regelung zufolge nur noch an 18 Tagen im Jahr aufgezogen, beispielsweise zu Geburtstagen von Mitgliedern der Königsfamilie. Protestantische Loyalisten, die die Region Nordirland weiter als elementaren Teil Großbritanniens sehen wollen, sehen sich dadurch in ihrer Identität bedroht. Sie stehen gegen katholische Republikaner, die einen Anschluss an die Republik Irland befürworten.

16-jährige Krawallmacher

Politisch steht dies jedoch derzeit nicht zur Debatte. Experten erwarten auch nicht, dass der nordirische Friedensprozess durch die Taten der meist jugendlichen Demonstranten beeinflusst wird. "Zum jetzigen Zeitpunkt bin ich nicht der Meinung, dass die Proteste ein Risiko für den Friedensprozess darstellen", sagte der nordirische Gesellschaftswissenschaftler Jonny Byrne in einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa. "Aber es ist wichtig sich bewusst zu machen, dass die Unruhen in loyalistischen Arbeitergegenden deutlich machen, dass Teile dieser Bewegungen und die unionistischen Parteien den Kontakt zueinander verloren haben."

Der Sicherheitsexperte Peter Neumann vom Londoner King's College erklärte, vor allem junge Leute ohne die Erfahrung des nordirischen Bürgerkriegs beteiligten sich an den aktuellen Unruhen. "Nicht nur wegen der sozio-ökonomischen Situation und weil sie nichts zu tun haben, sondern eben auch, weil ihnen die aktive Erinnerung daran fehlt, wie schlimm dieser Konflikt war", sagte er am Mittwoch dem Deutschlandfunk. Der Konflikt sei 1998 mit dem Karfreitagsabkommen zu Ende gegangen, die jungen Leute bei den derzeitigen Krawallen seien aber gerade mal 16 oder 17 Jahre alt. "Das heißt, das sind keine Menschen mehr, die noch wissen, die noch persönlich den Schmerz dieses Konfliktes erfahren haben, denen die aktive Erinnerung fehlt und die möglicherweise deswegen kein Problem damit haben, im Prinzip wieder vor vorne anzufangen".

7 Millionen Pfund Polizeikosten

Seit dem Stadtratsbeschluss sind bei Auseinandersetzungen 66 Beamte verletzt und mindestens 104 Demonstranten festgenommen worden. Einem Bericht des Senders BBC zufolge haben die seit Wochen immer wieder auflammenden Unruhen mehr als 7 Millionen Pfund (8,6 Millionen Euro) Polizeikosten verursacht.

Die Entscheidung für die neue Flaggen-Regelung war Anfang Dezember mit den Stimmen der pro-irischen Sinn-Fein-Partei sowie von Abgeordneten gemäßigter Parteien getroffen worden. Hardliner der Loyalisten wollen sie nicht mittragen. Vertreter verschiedener pro-britischer Gruppen kündigten für Donnerstag ein Treffen im Regionalparlament Stormont an, um eine Lösung in dem Konflikt zu finden. Einige radikale Loyalisten erklärten jedoch, sich an den Gesprächen nicht zu beteiligen und die Proteste am Samstag in Irlands Hauptstadt Dublin fortsetzen zu wollen.

Nordirlands Polizeichef Matt Baggott warnte am Montag, dass anhaltende Unruhen die Fähigkeit der Polizei beschneiden könnten, die Bedrohung durch anti-britische katholische Aufrührer abzuwehren. Militante irische Nationalisten haben seit dem Wiederanstieg der Spannungen 2009 schon drei Polizisten und zwei Soldaten getötet. Auf die Flaggenproteste haben sie bisher allerdings noch nicht reagiert. Baggott drängte die Politik, sich gegen die Krawalle zu stellen.

Bevölkerungsstruktur kippt

Auf den Straßen Belfasts wollen die meisten Menschen kein neues Blutvergießen sehen. Etwa 3.600 Menschen wurden in den drei Jahrzehnten des nordirischen Bürgerkriegs getötet. "Ich bin als Protestantin eigentlich Loyalistin, ich halte meine britischen Werte hoch und finde ehrlich gesagt auch nicht, dass die Flagge entfernt werden sollte", sagte Marianne McDonald, die im Osten Belfasts lebt. "Aber Gewalt und Brandsätze gegen die Polizei bringen uns nicht weiter". Es werde zwar immer einige geben, die ihre Position mit Gewalt durchsetzen wollten, doch die Zeiten hätten sich geändert.

Unterdessen kippt die Bevölkerungsstruktur zugunsten der pro-irischen Katholiken: Eine Volkszählung ergab, dass inzwischen die Mehrheit der Bewohner Belfasts der katholischen Konfession angehört. Auch in ganz Nordirland stellen die Protestanten erstmals seit der Unabhängigkeitserklärung Irlands die Minderheit. Dies dürfte sich binnen einer Generation auch in der Wählerschaft niederschlagen. Die Katholiken sind im Durchschnitt jünger und bekommen mehr Kinder.

Der britische Industrieverband Confederation of British Industry (CBI) warnte, dass weitere Krawalle ernsthafte wirtschaftliche Konsequenzen haben könnten. "Wir wissen, dass einige Investoren wegen der Unruhen bereits das Interesse verloren haben", sagte CBI-Direktor Nigel Smyth. "Es gibt Investoren, die wegen dieser Störungen das Interesse an Nordirland verloren haben", erklärte der Verband der Britischen Industrie. (APA, 9.1.2013)