Ernst Fritz-Schubert will Schüler lehren, die guten Gründe für Lebensfreude vom Ersatzglück zu unterscheiden.

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STANDARD: Schule und Wissen, Schule und Bildung, Schule und Ausbildung, neuerdings Schule und Kompetenzen sind gängige Begriffspaare – aber Schule und Glück – wie geht das zusammen? Eine Notwehrgemeinschaft?

Fritz-Schubert: Die Hauptaufgabe der Schule besteht in der Vorbereitung auf das gelingende Leben. Dazu gehört Lebenskompetenz, aber auch Lebensfreude. Im Sinne des Bildungsideals des Wilhelm von Humboldt sollen junge Menschen "sich" die Welt erobern und einen Platz in ihr finden. Bildung heißt in erster Linie sich bilden. Das gelingt weniger über Belehrung, sondern vor allem über Erlebnisse, die dazu führen, das Leben selbst in die Hand zu nehmen. Wir müssen deshalb aufhören, die Kinder wie Fässer zu betrachten, die wir mit Wissen füllen. Vielmehr müssen wir in ihnen die Fackel der Erkenntnis zünden, damit sie sich in einem Leben voller Herausforderungen nicht nur meistern, sondern dabei auch Freude empfinden.

STANDARD: Sie haben in Ihrer Zeit als Direktor der Willy-Hellpach-Schule in Heidelberg, die ein Wirtschaftsgymnasium, eine Berufsfachschule für Wirtschaft sowie eine Kaufmännische Schule mit Schwerpunkt Gesundheitsdienst, eine für Bank/Industrie und eine für Gesundheitskaufleute umfasst, das Schulfach Glück konzipiert und 2007 eingeführt. Was war die Idee dahinter?

Fritz-Schubert: In einer technisierten, ökonomisch ausgerichteten Welt steht die Fehler- und Problemanalyse an erster Stelle. Auch Schule orientiert sich vorwiegend an den Defiziten statt an den Stärken junger Menschen. Wenn Eltern beim Elternabend hören: "Ihr Kind macht keine Probleme", sind schon alle zufrieden. Wir müssen deshalb den Blickwinkel wenden, um Stärken und Potenziale zu fördern. Was über das gesamte Leben von einem Menschen bleibt, ist sein Charakter, seine Persönlichkeit. Und je früher wir anfangen, die Persönlichkeit durch Vermittlung von positiven Haltungen und Einstellungen zu stärken, desto größer ist die Chance, das von der Weltgesundheitsorganisation WHO für alle Menschen geforderte körperliche, seelische und soziale Wohlbefinden zu erlangen.

STANDARD: Der römische Philosoph Seneca hat in "De vita beata" (Vom glücklichen Leben) geschrieben: "Die Natur hat dafür gesorgt, dass es, um glücklich zu leben, keines großen Aufwandes bedarf; jeder kann sich selbst glücklich machen." Die Schule ist in vielen Familien ein großer Unglücksproduzent. Was soll das Schulfach "Glück" leisten?

Fritz-Schubert: Viele Probleme unserer Gesellschaft resultieren aus dem Fehlen einer Zugehörigkeit – der Mensch leidet dann seelischen Schmerz. Die 400 Facebook-Freunde, die gar keine Freunde sind, sondern auch nur im gleichen Dilemma stecken, können dabei wenig helfen. Glücksschüler hingegen entwickeln nachweislich stärkere Bindungen und entdecken in ihrer Familie, in der Schulgemeinschaft und in ihren Freunden wichtige Ressourcen für die Gestaltung des eigenen Lebens.

STANDARD: Kann man Glück oder Glücklich-Sein denn überhaupt lernen?

Fritz-Schubert: Der bekannte Wiener Psychologe Viktor E. Frankl gibt uns dazu folgende Antwort: "Je mehr der Mensch nach dem Glück jagt, desto mehr verjagt er es. Was er in Wirklichkeit sucht, ist ein Grund zum Glücklich-Sein, und wenn er ihn findet, stellt sich das Glück von alleine ein." Wir wollen deshalb den Kindern und Jugendlichen helfen, die guten Gründe für das Empfinden von Lebensfreude von den scheinbar guten Gründen, dem Ersatzglück, zu unterscheiden. Sie sollen erkennen, dass ein glücklicher Mensch ein wirksamer Gestalter seines Lebens ist, der für sich Sinn gefunden hat und achtsam mit sich, seinen Mitmenschen und der Natur umgeht.

STANDARD: "Heute haben wir Glück gehabt" – was können die SchülerInnen da zu Hause erzählen? Was passiert im "Glücks"-Unterricht konkret? Auch in Österreich gibt es das Schulfach Glück seit Herbst 2009 an mehreren Schulen in einigen Ländern.

Fritz-Schubert: Das Schulfach Glück bietet einen bunten Strauß von Erlebnissen, die körperlich und seelisch wohltuend wirken und geistig anregend zu neuen Erkenntnissen und guten Absichten führen. Unsere Schüler lernen zum Beispiel beim Klettern psychische und physische Hindernisse zu überwinden, beim Suchen eigener Stärken entdecken sie die Gruppe als Kraftquelle. Im mentalen Training erlernen sie, sich wie Sportler zu motivieren oder zu beruhigen. Damit die Erlebnisse nicht vergessen werden, beschreiben sie die Beobachtungen in ihren Heften. Sie berichten darin auch von ihren Versuchen, die Erkenntnisse auf den Alltag zu übertragen. Außerdem finden sich in den Dokumentationen auch Beobachtungen aus dem Alltag, eigene Zielsetzungen und Projekte. Diese Erfahrungsberichte bilden dann die Grundlage für die Noten.

STANDARD: Wie verändert ein "Schulfach Glück" die Schule? Ihr Projekt wurde ja auch wissenschaftlich evaluiert.

Fritz-Schubert: Glückliche Schüler streiten weniger, sind kreativer, lernen leichter und wissen, worauf es im Leben wirklich ankommt. Als mündige Schüler und Schülerinnen wissen sie eher, was sie wollen und was sie nicht wollen. Professor Ernst Gehmacher, Sozialwissenschafter aus Wien, und Professor Wolfgang Knörzer, Erziehungswissenschafter aus Heidelberg, konnten wissenschaftlich belegen, dass die Jugendlichen durch das Fach wesentlich mehr Sinn im Leben finden und sich mehr zutrauen. Sie können Erfahrungen eher in ein Lebenskonzept einordnen und empfinden weniger innere Widersprüche zwischen Fühlen, Denken und Handeln als die Schüler der Kontrollgruppe.

STANDARD: Was bedeutet denn Lernziel "Glück" genau? Was können diese Kinder, was andere nicht können?

Fritz-Schubert: Ausgehend vom aristotelischen Glücksbegriff sollen die existenziellen Bereiche wie Körper und Seele, aber auch der wertschöpfende Bezug zur Gemeinschaft vermittelt werden. Die Erkenntnisgewinnung über sich selbst, das eigene Handeln und das Leben im sozialen Netzwerk soll sich auf der kognitiven, aber insbesondere auch auf der emotionalen und körperlichen Ebene vollziehen. Wegen der individuellen und subjektiven Auffassung von Glück sollen sich die Schülerinnen und Schüler eine eigene Wertehierarchie erstellen und selbst mögliche Wechselwirkungen einzelner Prozesse erfahren dürfen.

STANDARD: Ist der Ruf nach Glück, glücklich sein oder endlich glücklich werden nicht auch schon in eine Art Stressfaktor ausgeartet?

Fritz-Schubert: Stimmt, aber deshalb ist es wichtig, das menschliche Streben nach Glück genauer zu betrachten, um im Dschungel der verführerischen Glücksversprechen seinen eigenen Weg zu finden.

STANDARD: Zum Schluss Frage 23 aus Max Frischs Fragebogen: Was fehlt Ihnen zum Glück?

Fritz-Schubert: Zu meinem Glück habe ich vor dieser Frage bereits die Frage Nr. 24 – "Wofür sind Sie dankbar?" – beantwortet. Danach hat sich Frage 23 erübrigt.
(Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, 14.1.2013)