"Die Politik der Regierung von Herrn Borissow war völlig verfehlt. Sie hat nichts getan, um die Einkommenssituation der Menschen zu verbessern", sagt Ex-EU-Kommissarin Meglena Kunewa.

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STANDARD: Nur vier Monate vor den regulären Parlamentswahlen ist die Regierung von Premier Boiko Borissow zurückgetreten. Das sieht doch sehr nach einem Schachzug aus, um politische Gegner und Demonstranten zu überrumpeln?

Meglena Kunewa: Ich glaube an kein Kalkül und keine Verschwörungstheorien. Was ich auf den Straßen sehe, ist eine deutliche Wut. Dies ist die zweite Regierung in Bulgarien, die über Volksproteste und die wirtschaftliche Not stürzt, nach jener des Sozialisten Schan Widenow im Februar 1997. Die Regierungspartei und Herr Borissow versuchen es so darzustellen, dass die anderen Parteien seinen Rücktritt wollten und er nachgegeben habe. Aber das ist nicht wahr. Er trat wegen der Proteste auf den Straßen zurück.

STANDARD: Das war der richtige Schritt?

Kunewa: Natürlich bin ich darüber nicht glücklich. Noch vor einigen Monaten haben wir uns eine solche Entwicklung nicht vorstellen können. Aber die wirtschaftliche Lage ist einfach zu unerträglich geworden. Eurostat zufolge leben 52 Prozent der Bulgaren unter der Armutsgrenze. 400.000 Menschen haben in den vergangenen Jahren ihre Arbeit verloren, 100.000 Unternehmen sind verschwunden - das entspricht der Größe einer ganzen Stadt. Die Politik der Regierung von Herrn Borissow war völlig verfehlt. Sie hat nichts getan, um die Einkommenssituation der Menschen zu verbessern.

STANDARD: Die Regierung verfolgte eine Politik der strikten Budgetdisziplin, ganz nach der herrschenden Denkschule in der EU.

Kunewa: Diese Regierung hat ein Budgetplus von mehr als drei Prozent geerbt, als sie 2009 antrat. Viele Länder in der EU sind fiskalpolitisch stabil und haben zugleich ein Wachstum: Deutschland, Polen, auch die baltischen Staaten, seit sie wieder auf Kurs sind. Es geht nicht allein um Budgetdisziplin, sondern um die Art und Weise, wie öffentliche Ausgaben gehandhabt werden. Um das Umfeld, das wir Investoren in Bulgarien anbieten. Wie haben wir zulassen können, mehr als 100.000 Unternehmen zu verlieren? Hat das etwas mit Budgetdisziplin zu tun? Keineswegs. Hier geht es um Korruption, die nur die Monopole im Land bedient, und undurchsichtige öffentliche Ausschreibungen.

STANDARD: Zweimal ist es in den vergangenen Tagen zu Selbstverbrennungen gekommen. Aber Bulgarien ist nicht Tibet unter chinesischer Herrschaft oder Tunesien unter einem Diktator. Was geschieht hier?

Kunewa: Die Stimmen des Volkes sind zu lange nicht gehört worden. Ich habe den Unterschied zu anderen europäischen Ländern gesehen. Wir brauchen endlich Transparenz und Rechenschaft von unseren Politikern. Unsere Demokratie steht heute auf dem Spiel. Die Menschen hier sind verzweifelt. Sie können ihre Rechnungen nicht bezahlen, keine Lebensmittel kaufen, ihre Familien nicht erhalten. Sie haben keine Hoffnung.

STANDARD: Sie gehörten der Regierung an, die 2005 mit der Privatisierung des Strommarktes begann. Welche Fehler sind gemacht worden?

Kunewa: Wir hatten Eon, CEZ und EVN als Investoren ausgewählt. Alle drei arbeiten sehr gut in anderen Ländern, nicht wahr? Die Frage ist, was die staatliche Regulierungsbehörde gemacht hat. Was wir brauchen, ist eine wirkliche Liberalisierung, bei der Kunden unter mehreren Stromanbietern auswählen können. (Markus Bernath, DER STANDARD, 25.2.2013)