Mit einem Tauchgang auf 214 Meter Tiefe war Herbert Nitsch bereits Weltrekordhalter im Apnoe-Tauchen. Doch der 42-jährige Wiener wollte mehr. Also glitt er vor der griechischen Insel Santorin mit einem Schlitten in unvorstellbare 250 Meter Tiefe ab. Am Weg zurück nahm das Drama seinen Lauf. Philip Bauer sprach mit dem "Deepest Man on Earth" über jenen verhängnisvollen Tag und dessen Folgen.

derStandard.at: Die wichtigste Frage vorweg: Wie geht es Ihnen neun Monate nach Ihrem Unfall?

Nitsch: Es könnte besser sein, ich bin rechtsseitig sehr eingeschränkt. Ich kann schlechter gehen, nicht laufen, habe Probleme mit der Balance, dem Schreiben und, wie man hört, auch mit dem Sprechen.

derStandard.at: Ich verstehe Sie gut.

Nitsch: Wenn ich schneller spreche, verhasple ich mich. Aber es wird besser, langsam, sehr langsam. Die Rehabilitation ist intensiv, rund um die Uhr. Aber es gibt Hoffnung auf eine vollständige Genesung.

derStandard.at: Wie schlimm war die Situation direkt nach dem Tauchgang?

Nitsch: Es war sehr ernst.

derStandard.at: Lebensbedrohlich?

Nitsch: Kurzzeitig ja. Ich wurde in ein künstliches Koma versetzt.

derStandard.at: Anschließend sind Sie, verzeihen Sie den Ausdruck, untergetaucht.

Nitsch: Zunächst war ich in Meidling stationär zur Rehabilitation. Dann bin ich auf eigenen Wunsch zwischen Meidling, Ärzten und zu Hause gependelt. Und ich habe Medienanfragen abgewiesen.

derStandard.at: Wie ist es Ihnen in dieser Zeit psychisch ergangen?

Nitsch: Am Anfang nicht so gut, ich war sehr ungeduldig, verzweifelt. Und ich hatte Angst. Es war schwierig zu akzeptieren, nicht alles unter Kontrolle zu haben. Mittlerweile ist aber das Schlimmste überstanden.

Foto: derStandard.at/Riegler

derStandard.at: Haben Sie Erinnerungen an den 6. Juni 2012?

Nitsch: Nein, nicht wirklich. Die Realität verschmilzt mit den Videos, die ich gesehen habe. Das Gedächtnis ist schwer in Mitleidenschaft gezogen. Aber es kommt teilweise zurück, oft fehlt nur ein gewisser Link.

derStandard.at: Wie muss man sich das vorstellen?

Nitsch: Die Auswirkungen sind ähnlich zu einem multiplen Schlaganfall. Die Files sind zwar noch da, aber man weiß nicht, wo sie zu finden sind.

derStandard.at: Mittlerweile scheint das System aber wieder zu funktionieren.

Nitsch: Ja, doch. Am Anfang habe ich mitten im Satz zu stammeln begonnen. Mir sind auch ganz einfache Wörter nicht mehr eingefallen, zum Beispiel "Baum". Ich wusste zwar, was ein Baum ist, aber nicht, wie er heißt.

derStandard.at: Können Sie sich erinnern, dass wir vor dem Weltrekordversuch miteinander gesprochen haben?

Nitsch: (lacht) Nein. Wann war das?

derStandard.at: Einen Tag zuvor. Sie waren sehr beschäftigt.

Nitsch: Es ist in dieser Zeit alles zusammengefallen, ich musste sehr viel selbst organisieren. Ich war belastet.

derStandard.at: Vielleicht sogar überlastet?

Nitsch: Ja, der Druck war groß. Nicht nur finanziell, auch durch die Medien. Ich wollte Sponsoren und Helfer auf keinen Fall vor den Kopf stoßen. Zudem habe ich selbst 100.000 oder mehr Euro hineingesteckt und dachte nicht, dass es so schiefgehen wird.

derStandard.at: Mit welchem Worst-Case-Szenario hatten Sie im Vorfeld spekuliert?

Nitsch: Dass ich es nicht schaffe, also gar nicht in die Tiefe komme. Oder dass mir beide Trommelfelle platzen. Das tut zwar saumäßig weh, heilt aber normalerweise innerhalb von Wochen rückstandslos.

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derStandard.at: Haben Sie das Risiko unterschätzt, die Warnungen der Ärzte leichtfertig ignoriert?

Nitsch: Die gingen in eine andere Richtung. Ich habe die bekannten Gefahren durch Vorkehrungen eliminiert. Früher wurde ich in der Szene oft ausgelacht, weil ich ganz besonders auf Sicherheit geachtet habe. Aber diesmal ist etwas eingetreten, das bis dahin beim Freitauchen nicht passiert ist.

derStandard.at: Und zwar?

Nitsch: Ich wurde vermutlich durch den Tiefenrausch ohnmächtig, normalerweise passiert das durch den Sauerstoffmangel. Das sieht zwar auch gravierend aus, wäre aber harmlos gewesen. Darüber hätten wir gelacht.

derStandard.at: Wann sind Sie in Ohnmacht gefallen?

Nitsch: Rund 100 Meter unter der Wasseroberfläche, beim Auftauchen. Dann wurde ich mit dem Schlitten in eine Tiefe von 15 Metern gezogen und von den Sicherungstauchern über Wasser gebracht.

derStandard.at: War die Rettungskette optimal organisiert?

Nitsch: Im Rahmen unserer Möglichkeiten schon. Eine Druckkammer vor Ort wäre natürlich besser gewesen. Ich hatte mich damals erkundigt, aber Sicherheit ist auch immer eine Frage des Geldes.

derStandard.at: Stößt der Mensch in dieser Tiefe also an Grenzen, die er besser akzeptieren sollte?

Nitsch: Es wird mit zunehmender Tiefe einfach gefährlicher. Und irgendwann kommt für jeden der Punkt, an dem er seine Ziele mit dem Risiko abwägen muss. Ich dachte, dass das Risiko für mich in dieser Tiefe noch akzeptabel wäre.

derStandard.at: War es das Risiko aus heutiger Sicht wert?

Nitsch: (überlegt nicht) Nein. Ich hätte es besser nicht machen sollen.

derStandard.at: Mancher Kritiker wird jetzt denken, Sie sind zur Vernunft gekommen.

Nitsch: Ich bin ein Risiko eingegangen, ja. Man sollte aber nicht darüber urteilen, ohne sich mit dem Thema ernsthaft auseinandergesetzt zu haben. Einfach nur zu sagen, dass es gefährlich wäre, halte ich für einfältig.

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derStandard.at: Ihr Projekt hat unsere Community polarisiert. Die einen sahen den Pionier, die anderen den Draufgänger.

Nitsch: Wo wären wir ohne die Gebrüder Wright? In den Augen mancher ist die Rekordjagd aber wohl nur ein unnötiger Egotrip.

derStandard.at: Und für Sie?

Nitsch: Lange Zeit war es für mich nur ein Hobby. Ich habe Menschen am Meer beneidet, wollte die eigenen Grenzen, meinen Körper kennenlernen. Und wenn dann nebenbei ein Rekord fiel, war das ja auch nett.

derStandard.at: Die Gefahr eines Unfalls hat Sie niemals abgeschreckt?

Nitsch: Der tödliche Unfall meines Kollegen ... Ich habe ein Problem mit Namen ... (Loïc Leferme, Anm.) Ja, das gab mir tatsächlich zu denken. Aber soll man sich zu Hause einsperren? Menschen sterben täglich im Straßenverkehr.

derStandard.at: Diese Menschen suchen aber nicht aktiv die Gefahr.

Nitsch: Apnoe-Tauchen ist ja nicht nur Gefahr, sondern in erster Linie Spaß und Leidenschaft.

derStandard.at: Leben Sie diese Leidenschaft noch oder haben Sie mit dem Apnoe-Sport abgeschlossen?

Nitsch: Ich war kürzlich beim Schnorcheln in der Südsee wieder Freitauchen. Die Rekordjagd war schon früher nur ein kleiner Prozentsatz meiner Tätigkeit. Ich werde weiterhin unter Wasser filmen und fotografieren. Und ich möchte ein U-Boot bauen.

derStandard.at: Wie hat sich Ihr Comeback im Wasser angefühlt?

Nitsch: Wie eine Rückkehr ins Element. Es war aber nicht so leicht, die Orientierung zu wahren. Der Vorteil im Wasser: Man kann nicht fallen, es tut nicht weh. Für einen Urlaub reicht es.

derStandard.at: Und mehr?

Nitsch: Es kommt nicht gut, wenn man beim Filmen mit der rechten Hand zittert.

derStandard.at: Haben Sie bereits konkrete berufliche Pläne?

Nitsch: Ich habe mich kürzlich mit Jean-Michel Cousteau getroffen. Er engagiert sich stark für den Schutz der Ozeane, in diese Richtung möchte ich gehen. Der Umweltgedanke ist mir in den letzten Jahren immer wichtiger geworden.

derStandard.at: Die Rekordjagd lassen Sie aber endgültig bleiben?

Nitsch: Da schweige ich mich lieber aus. Aber sofort sicher nicht.

derStandard.at: Und wie sieht es mit Ihrer Tätigkeit als Berufspilot aus?

Nitsch: (lacht) Ich würde bei mir nicht mehr einsteigen. Ich werde sicher nicht in den Beruf zurückkehren.

derStandard.at: Ist Ihnen eigentlich wichtig, ob ihr Tauchgang auf 249,5 Meter offiziell als Weltrekord gilt?

Nitsch: Es ist wurscht. Ich war ja so tief. Und den Weltrekord habe ich so oder so. Also ist es doppelt wurscht. Andere Dinge sind jetzt wichtiger. (Philip Bauer, derStandard.at, 6.3.2013)