Sportarzt und Umweltmediziner Piero Lercher.

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Der Leiter der Initiative "Unser Schulbuffet", Manuel Schätzer.

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Ernährungswissenschaftlerin und Gesundheitspsychologin Ingrid Kiefer.

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Der Sitzzwang in der Schule stelle Kinder ruhig, sagt Sportmediziner Piero Lercher. Dazu kommen Eltern, die zu gestresst sind, um Zeit mit dem Nachwuchs zu verbringen. So werde der natürliche Bewegungsdrang den Kindern regelrecht ausgetrieben. Ähnlich bei der Ernährung: Wo allerorts Fastfood und Imbisse locken und Eltern als Essvorbilder versagen, finden viele Kinder keinen Zugang mehr zu gesunder Ernährung.

Kann die Schule ausgleichen, was soziale Herkunft beim Gesundheitsverhalten in die Wiege legt? Wie kann ausgewogene Ernährung im Alltag aussehen? Brauchen Kinder ein Recht auf Langeweile, um wieder Freude an Bewegung zu entwickeln? Und wie nimmt man den sozialen Druck von dicken Kindern? Am runden Tisch von derStandard.at Platz genommen haben Ernährungswissenschaftlerin und Gesundheitspsychologin Ingrid Kiefer, der Sportarzt und Umweltmediziner Piero Lercher und der Leiter der Initiative "Unser Schulbuffet", Manuel Schätzer.

derStandard.at: Wie wichtig ist es, in der Kindheit mit der Ernährungserziehung zu beginnen?

Kiefer: Sehr wichtig. Eigentlich müsste man schon vor der Kindheit beginnen, denn unser Ernährungsverhalten wird bereits im Mutterleib geprägt. Wir wissen zum Beispiel, dass Kinder später lieber Karottenbrei essen, wenn die schwangere Mutter Karottensaft trinkt. Es ist wichtig, dass Kinder die Vielfalt der Lebensmittel und Geschmäcker möglichst früh kennenlernen. Sie kommen mit einem natürlich Hunger- und Sättigungsgefühl zur Welt, haben aber von Anfang an schon bestimmte Vorlieben und Abneigungen.

derStandard.at: Warum geht dieses natürliche Hunger- und Sättigungsgefühl bei vielen Kindern wieder verloren?

Kiefer: Wenn man ein Baby immer dann füttert, wenn es schreit, verliert es die Fähigkeit, zwischen Hunger und Sättigung zu unterscheiden. Es lernt, dass es relativ schnell etwas zu essen bekommt. Das ist der erste Schritt in ein falsches Essverhalten.

Lercher: Kinder reagieren bei der Ernährung oft instinktiv richtig, sie merken, wann sie genug haben und was ihnen gut tut. Erst die Eltern und Erziehungsberechtigten bringen durch ihr Ernährungsverhalten eine Tendenz hinein.

derStandard.at: Das soziale Milieu, in das ein Kind geboren wird, prägt auch sein Essverhalten. Kann die Schule hier korrigierend eingreifen?

Schätzer: Ja - je früher, desto besser. Die Schule ist nicht dafür da, alles wieder geradezubiegen. Aber man kann von pädagogischer Seite und von Angebotsseite das Verhalten der Kinder beeinflussen - nach dem Motto: Wenn die Schokolade schon da ist, dann esse ich sie. Für das Schulbuffet heißt das etwa: Wenn es dort vorwiegend Süßigkeiten und Mehlspeisen gibt, dann werden die Kinder das essen. Hier spielt auch die angebotene Portionsgröße eine Rolle.

Kiefer: Wir wollen Kinder behandeln wie Erwachsene - das ist ein Problem. Denn Kinder essen anders als Erwachsene: nicht immer zur gleichen Zeit, nicht immer gleich große Portionen.

derStandard.at: Bleiben wir bei der Schule - auf die Bewegungsfreude der Kinder wirkt sie oft eher hemmend als fördernd.

Lercher: Schule und Erziehung machen oft vieles kaputt und unterdrücken den natürlichen kindlichen Bewegungsdrang. Durch den Sitzzwang in der Schule werden Kinder regelrecht ruhiggestellt. Auch viele Eltern deponieren ihre Kinder vor dem Fernseher oder der Spielkonsole, weil sie selbst den Wert von Bewegung nicht kennen oder einfach keine Zeit aufwenden wollen, um sich mit den Kindern zu beschäftigen.

Schätzer: Die Vorgaben der Eltern wirken bis ins Pausenverhalten in der Schule hinein. Die Eltern erwarten sich häufig, dass das Essverhalten dort wie zu Hause abläuft, wo man beim Essen am Tisch sitzt. Dabei sind Gruppendynamik und Bewegungsverhalten in der Schule ganz anders. Oft ist die Pause, in der gegessen wird, die einzige Möglichkeit für Kinder und Jugendliche, sich zu bewegen.

derStandard.at: Kinder leben im Hier und Jetzt, mit dem Vorsorgegedanken wird man sie nicht zu einem gesunden Lebensstil bewegen. Wie kann es in der Praxis gelingen, sie dafür zu begeistern?

Kiefer: Nur besonders nette Kinder wählen bei der Entscheidung zwischen Apfel und Schokolade den Apfel, weil sie wissen, dass sich die Eltern dann freuen. Prinzipiell schmeckt ihnen natürlich Schokolade besser. Wenn Kinder von Anfang an viel Süßes und Fettreiches bekommen, werden sie es später auch wollen. Ungesunde Lebensmittel oder Mahlzeiten sollten nicht als Belohnung eingesetzt werden oder deren Entzug als Strafe. Sonst bekommt das Essen eine falsche Bedeutung. Absolute Verbote sind tabu, weil das Lebensmittel dadurch nur interessanter wird. Sie verleiten Kinder dazu, heimlich zu essen, was die Basis eines problematischen Essverhaltens ist.

Man muss Obst und Gemüse kindgerecht anbieten: keinen Riesenapfel als Ganzes, sondern portioniert, etwa als Sticks. Kinder mögen in der Regel Süßes lieber. Also nimmt man besser Karotten und Äpfel als bittere Kohlsprossen. Die Eltern und Erziehungsberechtigten sind wichtige Vorbilder. Ich kann als Vater oder Mutter nicht verlangen, dass mein Kind ein Gemüsetiger wird, wenn ich selbst nur selten Gemüse esse.

derStandard.at: Wie wichtig ist das praktische Ausprobieren - bei der Ernährung wie bei der Bewegung?

Schätzer: Wissen zu vermitteln alleine reicht nicht, die Kinder und Jugendlichen müssen erleben können, wo das Gemüse wächst und dass Bewegung Spaß macht. Wir sehen, dass bei Mitmachspielen im Unterricht viel mehr vermittelt werden kann. Das Stichwort ist Erlebnisorientierung. Dabei muss man natürlich schauen, was für die Zielgruppe interessant ist. Fragt man Jugendliche in einer Klasse, für wen Gesundheit wichtig ist, zeigen einige wenige auf. Fragt man sie aber, wer in der Freizeit leistungsfähig und aktiv sein möchte, wird es plötzlich spannend. Bei der Ernährung könnte eine Botschaft sein: Wenn ich frühstücke, genug trinke und eine g'scheite Jause dabeihabe, kann ich mich besser konzentrieren.

Lercher: Kinder werden gerne als Unmündige betrachtet. Die Gesundheitsbotschaft kommt über die Eltern oder Lehrer gefiltert, obwohl man mit den Kindern selbst sehr gut reden kann. Die sind nicht so blöd, wie die PISA-Tests immer glauben machen wollen.

derStandard.at: Wie wichtig ist es für die Entwicklung von Bewegungsfreude, dass Kinder unverplante Zeit haben? Und wie ist das praktisch organisierbar, wenn viele Erwachsene selbst unter Zeitdruck stehen?

Lercher: Das ist ein gesellschaftliches Problem: Die Eltern haben selbst keine Zeit und geben die Kinder in Betreuungsinstitutionen ab, die es richten sollen. Der Stellenwert der Kinder in der Gesellschaft muss ein anderer werden. Ich sehe in meinem Praxisalltag heute schon Jugendliche mit unterdurchschnittlicher Leistungsfähigkeit. Die sind noch nicht direkt krank - der jugendliche Körper hält ja viel aus. Aber sie haben beste Voraussetzungen für eine Krankheitskarriere. Zugleich wird der Schulsport reduziert.

Schätzer: Kinder müssen ein Recht auf Langeweile haben. So entsteht ein kreativer Prozess und man kann sich selbst erfinden.

derStandard.at: Die meisten Gesundheitskampagnen scheitern daran, dass sie genau jene Menschen erreichen, die ohnehin gut informiert sind. Die eigentliche Zielgruppe hat oft andere Sorgen, als sich über gesunde Ernährung Gedanken zu machen. Wie entkommt man diesem Dilemma?

Kiefer: Bestimmte Zielgruppen wie Migranten sind tatsächlich sehr schwer zu erreichen. Jedes Präventionsprogramm muss leistbar sein und so gestaltet, dass jeder mitmachen kann. Ein Weg ist die Schule: Hier erreichst du alle Kinder. Und über die Kinder kann man an die Eltern kommen.

Lercher: Im Rahmen der Kinderuni werden beispielsweise immer wieder Veranstaltungen in Parks gemacht, um auch Kinder aus Randgruppen zu erreichen. Das funktioniert gut. Man muss dorthin gehen, wo die Leute sind.

derStandard.at: Wo endet Gesundheitsbewusstsein und wo beginnt krankhafte Beschäftigung mit Gesundheit?

Kiefer: Bei der Ernährung gilt: Sobald es einseitig wird, wird es kritisch. Verbote sind bei der Ernährung immer schlecht. Die gute alte Ernährungspyramide gilt immer noch. Wenn die Eltern keine fette Wurst mehr kaufen, die Limonaden reduzieren und Weißbrot nur mehr selten zu Hause ist, ändert sich ohne großen Aufwand und ohne Diskussion das Ernährungsverhalten der ganzen Familie.

Schätzer: Im Rahmen der Initiative "Unser Schulbuffet" achten wir darauf, dass acht von zehn angebotenen Getränken zuckerfrei oder maximal einen moderaten Zuckergehalt haben - zum Beispiel gespritzte Fruchtsäfte. Wir verbieten keine Süßigkeiten, achten aber darauf, dass die Portionsgröße 30 Gramm nicht übersteigt.

derStandard.at: Heute weiß man, dass die Übervorsicht mancher Eltern dazu führen kann, dass die Kinder körperliche Fähigkeiten nur mangelhaft ausbilden. Wie lässt sich dieser Entwicklung gegensteuern?

Lercher: Viele Eltern kennen ihre Kinder gar nicht richtig. Sie wissen nicht, was ihre Kinder können, ob sie schwimmen können oder über einen Baumstamm balancieren. Und dann agieren sie übervorsichtig, was die Entwicklung kindlicher Fähigkeiten erst recht einschränkt. Es muss wieder schick werden, Zeit mit den Kindern zu verbringen und mit ihnen herumzutollen.

Kiefer: Man muss die Eltern motivieren, sich gemeinsam mit ihren Kindern zu bewegen. Viele Eltern sagen: Ich habe keine Zeit für Bewegung wegen der Kinder. Sie kommen gar nicht auf die Idee, dass sie sich gemeinsam mit ihren Kindern bewegen könnten. Das Alles-oder-nichts-Prinzip ist weder bei der Ernährung noch bei der Bewegung eine gute Idee. Der aktive Lebensstil sollte so gestaltet sein, dass man ihn langfristig beibehalten kann und dass er Spaß macht.

derStandard.at: Dicke Kinder erleben extremen sozialen Druck durch Gleichaltrige und medial vermittelte Schönheitsideale. Das hemmt doch auch einen gesunden Zugang zum eigenen Körper. Wie lässt sich das ändern?

Lercher: Medizinisch gesehen ist Übergewicht für eine ganze Reihe von Krankheiten ein Risiko - von Stoffwechselkrankheiten wie Diabetes bis hin zu Gelenksbeschwerden, Depressionen und Bluthochdruck. Aus Sicht der Medizin ist klar, dass Übergewicht die Lebensqualität einschränkt.

Kiefer: Übergewichtige Kinder werden in der Regel übergewichtige Erwachsene. Uns geht es bei der gesunden Ernährung darum, dass Kinder nicht übergewichtig werden und dass sie ausreichend mit allen wichtigen Nährstoffen versorgt sind, die für eine optimale körperliche und geistige Leistungsfähigkeit, aber auch für das tägliche Wohlbefinden und die Gesundheit unerlässlich sind. (Lisa Mayr, derStandard.at, 15.4.2013)