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Teresa Margolles

Foto: APA/EPA/Martin

Im Interview spricht sie über die Arbeit in der forensischen Pathologie und die Gewalt in Ciudad Juárez.

Standard: Sie verwenden oft Material, das den Betrachter zunächst schockiert, das unter die Haut geht: Blut von Gewaltopfern, Wasser von Leichenwaschungen, menschliches Fett, das sie durch Bestechungen aus Schönheitskliniken erhalten haben oder wie in „Lengua" („Zunge", 2000) sogar eine präparierte, gepiercte, menschliche Zunge, die sie im Tausch gegen einen gestifteten Sarg erhalten haben. Wieso sind diese Materialien für Ihre Arbeit wichtig?

Teresa Margolles: Jedes Material mit dem ich arbeite steht für einen ganz bestimmten Gedanken. So war auch die Arbeit „Zunge" sehr spezifisch. Es ging nicht um einen kommerziellen Handel, sondern darum, dass diese Frau einfach einen Sarg für ihren ermordeten Sohn gebraucht hat, den sie sich nicht leisten konnte. Somit spricht die Arbeit die Situation vieler Jugendlichen und deren Prekariat an.

Standard: Ist die Zunge als Symbol für Sprache nicht auch ein Stellvertreter für ein Schicksal und eine Geschichte, die nicht mehr erzählt werden kann? Als Kunstobjekt erzählt sie von einem Leben, über das man sonst nichts erfahren hätte.

Margolles: Ja. Sie steht stellvertretend für die vielen ermordeten Jugendlichen.

Standard: Man hat Ihnen nicht nur vorgeworfen, eklige Materialien zu verwenden, sondern die Opfer neuerlich zu Opfern zu machen, den Betrachter zum Täter. Wie gehen Sie mit diesen Vorwürfen um?

Margolles: Man hat so viele Dinge gesagt, dass ich eigentlich einfach versuche, weiterzuarbeiten. In diesen vielen Jahren der Arbeit habe ich sicher auch Fehler gemacht. Vielleicht hat es mir auch manchmal an Sensibilität gefehlt, auf jedes Befinden Rücksicht zu nehmen. Aber die Realität hat mich übermannt: Acht enthauptete Menschen in einem Leichenschauhaus zu sehen, acht starke Männer ... Oft sind die künstlerischen Reaktionen darauf nicht die korrektesten, aber wie kann man diesen Horror übersetzen?

Standard: Durch die Drogenkriege ist in Mexiko der gewaltvolle Tod allgegenwärtig und spielt in ihrer Arbeit eine wichtige Rolle. Wann waren sie das erste Mal persönlich und unmittelbar mit dem Tod konfrontiert?

Margolles: Als gerichtsmedizinische Präparatorin habe ich jahrelang im Leichenschauhaus gearbeitet und habe dadurch seit langem mit dem Tod zu tun. In diesen Jahren sind sehr viele Dinge (Anm.: Margolles spricht nie konkret von Morden oder Verbrechen) passiert. Ich habe den Tod und den toten Körper in vielen Formen kennengelernt: vom vergessenen Kadaver, der im Leichenschauhaus liegt und von niemandem vermisst wird, bis zu Körpern, die vermisst aber von Drogendealern geraubt wurden.

Standard: Aber gab es ein einschneidendes Erlebnis bevor Sie diesen Beruf ergriffen haben?

Margolles: Das sind persönliche Geschichten. In Sinaloa hat jeder einen Toten im eigenen Haus. Natürlich habe ich eine Beziehung des Schmerzes dazu, aber es gibt keine direkte Beziehung mit dem, was ich künstlerisch mache. Die Erlebnisse gibt es natürlich. Die gab es vorher und wird es auch immer geben. Es ist eine Realität, die sich nicht ändern wird.

Standard: Hatte die Entscheidung in der Gerichtsmedizin zu arbeiten, bereits mit ihrer künstlerischen Arbeit zu tun?

Margolles: Ja. Ich arbeitete als Fotografin und hatte ein künstlerisches Interesse, mich mit toten Körpern auseinanderzusetzen. Die Fotografie war meine Eintrittskarte in die Gerichtsmedizin. Aber dann begann Dreidimensionalität für mich eine Rolle zu spielen und so machte ich auch Installationen und Performances.

Standard: Wie war die Zusammenarbeit mit der Polizei – und hatten Sie mit jenen Beamten zu tun, die die Frauenmorde von Ciudad Juárez aufklären sollten?

Margolles: Die Gerichtsmedizin hat letztlich das Ziel, Gerechtigkeit zu finden. Alle Fälle sind mit etwas verknüpft und so sind natürlich auch Mediziner und der Polizeiapparat in die Fälle verstrickt. Bei den künstlerischen Arbeiten, die ich später in Ciudad Juárez realisiert habe, war ich nicht mehr in der forensischen Pathologie tätig, sondern habe auf der Straße gearbeitet. 2004 bin ich das erste Mal nach Ciudad Juárez gereist. Ich hatte große Angst als Frau. Ich habe mir nichts weiter als einen Van gekauft und mir zeigen lassen, wo tote Frauenkörper geborgen wurden. Mit einer am Van montierten Kamera bin ich diese Routen abgefahren. Ich mag Ciudad Juárez und habe von dieser Stadt sehr viel gelernt habe. Dort habe ich die mutigsten Frauen meines Lebens kennengelernt.

Standard: Ich habe von den vielen mutigen Initiativen der Frauen in Ciudad Juárez in der Zeitung gelesen. Haben diese Anstrengungen irgendeine Verbesserung gebracht?

Margolles: Ich weiß es nicht. 2010 war der Höhepunkt der Morde. Die Zahl der verschwundenen Frauen und umgebrachten Frauen ist seitdem nicht zurückgegangen. Jene Gewalt, die mit dem Drogenhandel in Zusammenhang gebracht wird, ist zwar etwas niedriger, dafür steigt die „allgemeine" Gewalt gegen Frauen. Dass wird deutlich, wenn man sieht, wie viele Frauen sich zusammentun, um ihre vermissten Töchter zu finden.

Standard: In ihrer installativen Arbeit „PM 2010" zeigen Sie 313 Titel der Tageszeitung „PM" aus Ciudad Juárez, auf der Fotos grausiger Fundorte neben Bildern halbnackten Starlets gezeigt werden. Ist die Sensationslust der Zeitungen oder des Fernsehen schlimmer?

Margolles: „PM" ist eine populäre Tageszeitung. Wenn sie mittags erscheint, warten die Leute bereits darauf. In „PM" wird die Gewalt auch sehr roh beschrieben, aber es ist das, was passiert und was andere Zeitungen gar nicht schreiben und auch das Fernsehen nicht zeigt. „PM" ist natürlich speziell, weil es den nackten, sexy Frauenkörper direkt neben den verstümmelten Frauenleichen zeigt. Dennoch wird sie verwendet um Dinge einzupacken, Früchte zum Beispiel oder Fleisch; das Blatt kommt also auf jeden Fall zu ihnen nach Hause. In Mexiko Journalist zu sein, ist auch gefährlich. Viele werden umgebracht. Auf „PM" und Zeitungsredaktionen in ganz Mexiko hat man Bomben geworfen. Ein Herausgeber hat in einem offen Brief einmal gefragt: "Was wollt ihr denn, dass wir schreiben?". Zu diesem Zeitpunkt waren bereits drei Journalisten seiner Redaktion umgebracht worden.

Standard: Gibt es auch seriöse Berichterstattung über diese Verbrechen?

Margolles: Ja, in „Universal" einer nationalen Zeitung, einer Wochenzeitung, die „Der Prozess" heißt und in Online-Medien. Ein Online-Medium gibt es nicht mehr, weil sie den Herausgeber umgebracht haben. Wer erzählt uns, was passiert, wenn sie sie alle umbringen? (Anm.: Wer sie ist, lässt Margolles absichtlich offen.)

Standard: In ihrer künstlerischen Arbeit werden auch Themen wie das soziale Gefälle, Mord und Korruption gestreift. Für welchen Bereich haben Sie am ehesten Hoffnung auf positive Veränderung?

Margolles: In meiner Arbeit spreche ich vor allem von Verlust, von der Leere, vom Schmerz. Es geht um die Familie, die zerstört zurück bleibt. Es gibt zwar Fäden, die zum Drogenhandel führen, aber es geht mir eigentlich um Verlust. Was richtet die Tragödie eines Todes in einer Familie an? Welche Hoffnung ich habe? Das Thema ist zu komplex für eine unmittelbare Antwort.

Standard: Ihre Kunst wird sehr stark im internationalen Kontext gezeigt. Gibt es genügend Gelegenheiten, auch in Mexiko auszustellen?

Margolles: Ja. Letztes Jahr gab es zwei Ausstellungen. Im Museo de Arte Moderno in Mexiko-Stadt zeigte ich die Arbeit „ A través" („Durch das Glas"), wo ich neuerlich mit Fett gearbeitet habe. Ich habe mehr als 200 T-Shirts jugendlicher Arbeiter aus verschiedenen Städten im Norden eingesammelt und das Schweißfett davon gewonnen. Damit wurde ein Fenster bestrichen. Man hat dann eigentlich durch sie durchgeschaut. Wir haben darüber gesprochen, wie man sich lebendig konservieren kann. Mit Lebenden zu arbeiten, generiert eine andere Energie. In diesem Fall ist es auch eine Arbeit mit Lebenden für Lebende, denn ich gebe den jungen Männern mit dem Auftrag das T-Shirt zu tragen, auch den Auftrag sich selbst zu respektieren, Widerstand zu leisten. Die jugendlichen Arbeiter sind bereits dadurch stigmatisiert, jung zu sein, denn sie haben keine Aussichten, sind bereits verloren, haben keine Aufstiegsmöglichkeiten. Vielleicht war auch ein Drogendealer unter ihnen. Aber alle haben ein Recht, am Leben zu bleiben.

Die zweite Ausstellung im Museo Universitario Arte Contemporáneo MUAC in Mexiko-Stadt, hieß „La Promesa" („Das Versprechen", 2012). Dort habe ich mit den zurückgelassenen Häusern aus Ciudad Juárez gearbeitet. Es gibt dort mehr als 200.000 leer stehende, verlassene Häuser. Meine Ausgangsfrage war, warum sollte eine Frau ihr Haus verlassen? Wieso würde sie ihr Zuhause, ihr Erbe, den Ort, wo ihre Kinder aufgewachsen sind und wo ihre Neffen und Enkel aufwachsen sollen, verlassen? Ich habe daher angefangen zu beobachten, wie diese Häuser, abgetragen werden, oder Teile davon gestohlen werden. Die Arbeit handelt von dem gebrochenen Versprechen, die Häuser zu erhalten und dass sich dieses Versprechen in Staub aufgelöst hat. Ich habe eines dieser verlassenen Häuser gekauft, in dem natürlich „Dinge" passiert sind (Anm: Margolles lässt stets offen, um welche Vorkommnisse es sich handelt) und es nach und nach abgetragen. Man sollte sehen, mit welcher Präzision und auch Sanftheit ich dieser Arbeit nachgehe, denn normalerweise werden die Häuser in einer Minute abgerissen.

Standard: Es geht darum, den Häusern Respekt zu zollen?

Margolles: Ja. Ich habe das Haus wie einen Körper behandelt. Mit dem Schutt habe ich im Museum eine Linie von 30 Metern aufgeschüttet. Zweimal am Tag haben Freiwillige die Mauerreste bewegt. Es ist auch schmerzhaft, weil man, wenn man die kleinen Steinchen bewegt hat, auch Stückchen vom Haus gefunden hat, die man als Teile des Hauses wiedererkennen konnte. – Dort, wo das Haus stand, habe ich ein anderes Haus gebaut und es einer Frauengruppe zur Verfügung gestellt. Bei diesem Haus war ich schon bevor ich es zerstört habe, sehr traurig. Es war schwierig. Denn um es zu zerstören, muss man sich auch die Seite der Macht begeben.

Standard: Um Erinnerung geht es auch in Ihrer Arbeit für Krems. Das Reenactment einer Performance für die Biennale de Arte Paiz in Guatemala 2012 ist eine Form der Oral History. ....

Margolles: Ausgehend von den Arbeiten „ A través" und „La Promesa" entwickelte sich der Wunsch, mit lebenden Personen zu arbeiten. Die Leute vom Museum sollten nicht nur ein fertiges Objekt aufstellen, sondern beim Entstehungsprozess dabei sein. Ich habe sie gebeten, zwei Tücher zu besorgen in denen tote Frauen eingewickelt waren. Nach einigen Monaten hatten sie Erfolg. Die Leichenschauhalle ist ein soziales Barometer, weil das, was dort passiert, ein Indikator für das ist, was auf der Straße passiert. 700 indigene Frauen wurden letztes Jahr in Guatemala ermordet. In Ciudad Juárez sind es weniger. Aber das weiß niemand. – Ich habe sie beauftragt, die Stoffe von indigenen Frauen, die über die Herkunft des Tuches aufgeklärt wurden, besticken zu lassen. Und ich schlug vor, dass die Frauen aus dem Dorf Santa Catarina Polopó, das nur fünf Stunden von Guatemala-Stadt entfernt ist, nicht nur den Stoff schicken, sondern gleich selbst kommen.

Standard: War es schwierig, die Frauen zu überzeugen, mitzumachen?

Margolles: Sie haben eine Maya-Herkunft, wo es ein Gesetz gibt, dass der Ehemann um Erlaubnis zu fragen ist. Aber diese Frauen haben ihre Männer bereits verlassen. Es ist eine Frauengruppe, die gegen Gewalt arbeitet. Normalerweise sticken sie im Privaten, für dieses Projekt sticken sie nun gemeinsam. Die Frauen saßen in der Ausstellung und man konnte sich zu ihnen setzen. Es wurde gestickt und erzählt. Diese Frauen sind in Guatemala diskriminiert. Man kennt die indigene Situation nicht. Sie haben in der Ausstellung die Möglichkeit gehabt, von ihrer Community und ihrer Arbeit mit Frauen zu erzählen. Mir war es wichtig, dass ich in einem Land, in dem ich fremd bin, nicht über die Frauen spreche, sondern dass die Frauen über sich selbst sprechen können. Der Stoff, der bestickt wird, ist nur der Träger dieser Geschichte. (Interview: Anne Katrin Feßler, Dolmetsch: Gabrielle Cram, Donaufestival,  DER STANDARD, 26.4.2013)