In den 1970er-Jahren herrschte ein besonderes Bedürfnis nach "vernünftigen Zuständen". Als vernünftig durfte eine Welt "ohne Ausbeutung und unnötige Repression" gelten. Der linke Literaturwissenschafter Peter Bürger, heute 76 Jahre alt, musste in der Vorrede zu seiner Theorie der Avantgarde (1974) den Umkehrschluss gar nicht erst ziehen. Jeder wusste auch so, was gemeint war.

Die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft verkörperte zum damaligen Zeitpunkt ein Unrechtssystem. Ihr lag nach Meinung der Kritiker nicht nur das Profitstreben zugrunde. Mit dem Ausbau des Warenangebots wurde die "künstlerische" Behübschung von Konsumgütern zum drängenden Problem.

Peter Bürgers Schrift über das Entstehen und Verblassen der historischen Avantgarde-Bewegungen glich einer Rettungstat. Der Bremer Wissenschafter wollte den Dadaisten und Surrealisten die Notwendigkeit ihres Tuns nicht absprechen, auch nicht nachträglich. Die schönen Künste waren im bürgerlichen Zeitalter schließlich zu anerkannten Disziplinen geworden.

Die Kunst ist bis heute ein Teilsystem des gesellschaftlichen Ganzen. Sie bildete während weniger Jahrhunderte ihre Unabhängigkeit ("Autonomie" ) aus, die sie eigensinnig verwaltete. Sie überwand nicht nur die Abhängigkeit vom religiösen Kultus, sondern löste sich auch vom Repräsentationsauftrag, den absolutistische Herrscher an sie ergehen ließen.

Künstlerische Autonomie-Werdung ist aus Sicht der kritischen Wissenschaft ein Nullsummenspiel. Was der Kunst an Freiheit zuwächst, büßt sie durch Folgenlosigkeit. Ihre Inhalte ("Werkgehalte", wie der vornehme Marxist sagt) verkommen bestenfalls zum Tröstungsangebot. Der Bürger, der in seiner Freizeit Kunst genießt, darf sich als jenes allseitig entfaltete Wesen erfahren, das zu sein ihm von der "zweckrationalen" Einrichtung der Gesellschaft verwehrt wird.

Peter Bürgers Lösung des geschichtsphilosophischen Problems ist eindrucksvoll. Er muss den Wirkungsabsichten historischer Avantgarde-Bewegungen Gerechtigkeit widerfahren lassen. Immerhin ging es den Dadaisten und deren Ablegern darum, die Bürger ("Philister") zu schockieren.

Zugleich kann der Theoretiker nicht so tun, als ob die Avantgardisten erfolgreich gewesen wären. Nichts wurde es mit der Sprengung der Ordnung. Die Kunst verharrt bis zum heutigen Tag weiter in ihrer Autonomie. Sie füttert den anonymen Markt mit immer neuen Reizmitteln und findet sich mit ihrer gesellschaftlichen Wirkungslosigkeit ab.

Indem Bürger der Kunst den Begriff der Autonomie zuerkennt, bannt er ihre Herrlichkeit. Zugleich benennt er ihre Ohnmacht. Als Dialektiker bekommt er beides in den Blick: Mit der Zerstörung des organisch durchgebildeten, "runden" Werkes haben die Avantgarde-Bewegungen Beachtliches geleistet. Indem die Aufrührer Unzusammengehöriges montierten, indem sie sogar dem Zufall Eingang in die Kunstproduktion verschafften, verhalfen sie einer entscheidenden Erkenntnis zum Durchbruch. Sie machten die "Erfahrung einer Nichtzweckgebundenheit in der zweckrationalen Gesellschaft".

Die andere Formel aus Bürgers Schrift ist zum geflügelten Wort vieler Proseminaristen geworden. Die Avantgardisten hätten ganz einfach die Kunst in "Lebenspraxis" überführen wollen. Die Kunst hätte wieder praktisch werden sollen. Und nur so wäre das "gute" Leben keine Kunst gewesen.  (Ronald Pohl, DER STANDARD, 3.5.2013)