Die Entscheidung des Jüdischen Weltkongresses (WJC), seine Jahresversammlung in Budapest statt in Jerusalem abzuhalten, ist ein wagemutiger Versuch, den Blick auf den Antisemitismus zu richten. Aber WJC-Präsident Ronald Lauder bietet damit auch dem ungarischen Premier Viktor Orbán eine Bühne, um sich als Vorkämpfer gegen dieses Übel zu präsentieren und so von seiner zumindest indirekten Verantwortung für antijüdischen Umtriebe in seinem Land abzulenken.

Die Problemlage ist tatsächlicher komplexer als oft dargestellt. Budapest ist die größte und lebendigste jüdische Gemeinde Mitteleuropas, aber nirgendwo in Europa wird so offen gegen Juden gehetzt. Dennoch sind Berichte über einen jüdischen Massenexodus aus Ungarn übertrieben. Das Hauptmotiv, warum so viele auswandern wollen, ist nicht Verfolgung, sondern die triste wirtschaftliche Lage.

Zahlreiche jüdische Künstler, Professoren und Journalisten müssen derzeit um ihre Jobs zittern, aber weniger wegen ihrer Religion als wegen ihrer politischen Gegnerschaft zur autoritären Fidesz-Regierung. Und nicht Fidesz, sondern die rechtsradikale Oppositionspartei Jobbik betreibt eine Judenhetze, wie zuletzt bei einem Aufmarsch am Samstag, der anderswo in Europa heute unvorstellbar wäre. Orbán kann mit gutem Gewissen darauf hinweisen, dass er die Demonstration untersagen wollte und dort selbst als Lakai des Weltjudentums attackiert wurde.

Berechtigt ist ein subtilerer Vorwurf gegen den Premier: Er spielt auf der gleichen chauvinistisch-xenophoben Klaviatur wie die Antisemiten und gibt ihnen damit Rückendeckung; sein Bild von Ungarn als "Bollwerk des Christentums" heizt jenen alten Kulturkampf zwischen reaktionärem Nationalismus und liberaler Weltoffenheit an, in dem Juden immer schon eine Schlüsselrolle spielten.

Aber letztlich ist der Antisemitismus nur ein Baustein - und sicher nicht der größte - jenes undemokratischen, bigotten und antieuropäischen Mauerwerks, das Orbán gerade errichtet, um seine Macht auf Jahre hinaus abzusichern. Es ist richtig, von Orbán eine schärfere Abgrenzung zu anti-jüdischen Umtrieben zu verlangen und ihn wegen Aussagen eigener Gefolgsleute zur Rechenschaft zu ziehen. Aber alle persönlichen Anschuldigungen zum Antisemitismus kann der gewandte Premier leicht parieren. Mit Kritik am systematischen Abbau des Rechtsstaates und der katastrophalen Wirtschaftspolitik tut er sich schon schwerer. (Eric Frey, DER STANDARD, 6.5.2013)