Es ist eine Urszene der neueren Musikgeschichte: Richard Strauss kommt am 16. Mai 1906 zur Erstaufführung seiner Salomé nach Graz gereist. Strauss (41) ist in diesen Tagen der wahre Erbe von Richard Wagner.

In seinem Operneinakter rumort höchst vernehmlich die Moderne. Eine judäische Prinzessin tanzt für ihren Stiefvater. Sie verlangt als Lohn für ihre freizügige Darbietung das Haupt von Johannes dem Täufer. Was vielleicht noch schwerer wiegt: Nicht nur die Sphären kollidieren in der Salomé. Die Tonarten (Cis-Dur und G-Dur) reiben sich heftig aneinander. Fortan ist in der "klassischen Musik" nichts mehr, wie es ehedem war. Die übermäßige Quarte, der "Tritonus", setzt das Ohr unter Schock. Das Bürgertum bekommt von einem seiner angesehensten Komponisten das Gruseln gelehrt.

Alex Ross (45) entwickelt in seinem monumentalen Musikessay The Rest is Noise (2007) alles Weitere aus dem Beginn - als enthielte der einleitende Klarinettenlauf der Salomé bereits die Keimzelle für alles Folgende. Der Musikkritiker des New Yorker erzählt nicht weniger als die Geschichte der Klassik im letzten, ausgeklungenen Jahrhundert: "Das 20. Jahrhundert hören", so sagt es ja auch der Untertitel.

Graz im Frühling 1906 ist auch noch aus anderen Gründen hochbedeutsam. Strauss trifft Mahler, den unglücklichen, angefeindeten Hofopern-Direktor aus Wien. Ein Foto zeigt die beiden Antipoden an der Bühnentür, Strauss mit einem Strohhut auf dem Kopf. Zur Premiere in den Süden gereist war auch ein gewisser Arnold Schönberg. Nicht weniger als sechs Schüler begleiteten den energischen Musik-Revolutionär. Giacomo Puccini hatte die umgekehrte Himmelsrichtung gewählt. Ein völlig unbekannter 17-Jähriger soll sich ebenfalls unter den erwartungsfrohen Gästen befunden haben. Dieser stand Zeit seines Verbrecherlebens ganz unmäßig im Banne Wagners. Er hieß Adolf Hitler.

Ernste Musik wurde zur Leitwährung eines Jahrhunderts, das noch in seinen katastrophalsten Wechselfällen auf Modernität erpicht war. Die Gründe für den beispiellosen Erfolgslauf der Gattung liegen nicht einfach auf der Hand. Nietzsche bespöttelte den Hang der Deutschen zur musikalischen Wesensschau als technologische Fehlleistung: Musik sei für seine Landsleute "das Telefon des Jenseits".

Zurückstehen hinter den Deutschen wollten die anderen Kulturnationen deshalb nicht. Die Geschichte der Dissonanzen zieht eine wüste Bahn durch junge Demokratien und totalitäre Staaten. Das Buhlen um die Gunst des Publikums entlud sich in Schockwirkungen - man denke an den Kometeneinschlag von Igor Strawinskys Le sacre du printemps in Paris 1913. Und doch begegnet man auf Schritt und Tritt Narren, Genies, Heiligen: Schostakowitsch, Aaron Copland, Pierre Boulez... Ross' famoses Buch liegt nun auch als Taschenbuch bei Piper vor. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 11./12.5.2013)