"Ich sollte nach England gehen. Dort ist die Landschaft herrlich und mein Alter den meisten egal": Maria Lassnig, geb. 1919.

Foto (2009): Sepp Dreissinger

Maria Lassnig: Dreifaches Selbstporträt (1970-1972).

Foto: Sepp Dreissinger

Andrea Schurian leitet das Kulturressort des STANDARD. Teile dieses Interviews erschienen zuvor in dem von Gerald Matt herausgegebenen Buch "Österreichs Kunst der 60er-Jahre. Gespräche". (Verlag für moderne Kunst).

Foto: Tom Linecker

STANDARD: Mögen Sie es, zu Ihrer Kunst und zu Ihrem Leben, zu Ihren Gedanken befragt zu werden?

Lassnig:  Ich glaube, es hat mich noch nie jemand das gefragt, was wirklich wichtig ist. In die Seele der Kunst hinein ist noch kein Interview vorgedrungen.

STANDARD: Glauben Sie, dass Sie diese Fragen überhaupt beantworten würden?

Lassnig: Ja, das ist die Frage: Ob ich das so hergebe, so leichtfertig. Ich müsste nachdenken, nicht einfach so heraussprudeln. Vermutlich würde ich jedes Mal etwas anderes antworten. Es gibt ja so viele Teile, die man hat.

STANDARD: Haben Sie nie daran gedacht, eine Autobiografie zu schreiben? Oder zu diktieren?

Lassnig: Nein. ich glaube nicht an Schreiberlinge, die ihre Bücher diktieren. Man muss Zeit haben, einen Satz hundert Mal überdenken und bevor einem nichts Gescheites einfällt, darf man den Griffel erst gar nicht in die Hand nehmen (lacht). Sind Sie nicht beeindruckt, wenn Sie lesen, dass Goethe jeden Tag um fünf oder sechs Uhr aufgestanden ist und geschrieben hat? Regelmäßig sechs Stunden gearbeitet hat? Regelmäßig. Das ist ein Schriftsteller. Und wenn ich hundert Mal etwas Schönes schreibe, würde ich mich nie als Schriftsteller bezeichnen. Aber ich hoffe, dass ich die Kraft haben werde, mich rechtfertigen zu können vor der Welt. Eine Rechtfertigung schreiben, dass man auf der Welt war, dass es sich gelohnt hat. Etwas Grundsätzliches wollte ich schreiben.

STANDARD: Warum Rechtfertigung? Die brauchen Sie doch nicht.

Lassnig: Doch, man braucht eine Rechtfertigung. Ich werde auch nach dem Tod noch lange nicht so gewürdigt sein, wie ich es sollte. Das klingt hochmütig. Aber es ist so. Dass man meine Kunst nicht in dem Maße würdigt, wie ich es verdiene.

STANDARD: Warum glauben Sie das?

Lassnig: Mein Gott, denken Sie nicht so oberflächlich. Weil ich manchmal in Artikeln gelobt wurde oder Preise bekomme, denke ich ja nicht, dass mich die ganze Welt würdigt. Ich kenne die Flüchtigkeit des Ruhms.

STANDARD: Macht Sie das bitter?

Lassnig: Natürlich. Ich bin nichts als Bitterkeit. Deshalb bin ich oft so pessimistisch. Weil ich bitter bin.

STANDARD: Ihr 90. Geburtstag wurde mit einer ganzen Reihe wichtiger Museumsausstellungen im In- und Ausland gefeiert: Mumok, Serpentine Gallery in London, Cincinnati, Münchner Pinakothek.

Lassnig: Die Serpentine Gallery war ein Höhepunkt! Dabei wollte ich dort anfangs gar nicht ausstellen! Ich bin einmal eigens nach London geflogen, um mir die Räumlichkeiten anzuschauen, da war das ganze Haus gerade mit schwarzen Tüchern ausgehängt. Ich war furchtbar enttäuscht und überzeugt, dass das nichts wird mit meiner Ausstellung. Doch dann haben die Leute von Serpentine angerufen und gebeten, dass ich endlich die Bilder schicke. Und als ich dann hingekommen bin, war ich wirklich erstaunt: Die Galerie schien wie für meine Bilder gemacht. Und die Engländer waren entzückt, es gab riesig lange Artikel in der Londoner "Times", die Leute haben die Ausstellung gestürmt. Einer hat geschrieben "Ein neuer Picasso ist geboren", ein anderer "Die Frau ist wirklich schon so alt und malt mit solcher Kraft".

STANDARD: Sie haben es nicht sehr gern, wenn man Sie auf Ihr Alter anspricht, und haben oft Ihren Ärger darüber geäußert, dass die Ausstellung im Mumok "Das neunte Jahrzehnt" hieß. Aber Sie könnten doch stolz sein, Sie schauen so viel jünger aus.

Lassnig: Aber in Österreich kriegt man als Frau und Künstlerin sofort den Jahresstempel aufgedrückt. Ich habe die Jahre nie gezählt, Ich war nie wirklich jung - und bin jetzt nicht alt. Ich habe nie daran gedacht, dass ich wirklich schon so alt bin. Erst seit der Mumok-Ausstellung fühle ich mich alt und verbraucht. Jeder sagt einem: "So eine tolle Ausstellung. Dass Sie das in Ihrem Alter noch machen konnten!" Nicht über die Bilder wird geredet, sondern über das Alter. In Österreich wird man als Frau und Künstlerin sofort abgestempelt. Jetzt muss ich mich wohl damit abfinden - oder auswandern. Ich sollte nach England gehen. Dort ist die Landschaft herrlich und mein Alter den meisten egal. Jedenfalls sollte man sich nicht beeindrucken und irritieren lassen vom eigenen Alter.

STANDARD: Sind Sie eitel?

Lassnig: Sie brauchen ja nur meine Selbstporträts anzuschauen, dann wissen Sie: Ich bin nicht sehr eitel. Vor allem nicht als junges Mädel. Mit neunzehn war ich eine dicke Tudl, da hätte ich jedem Bauern gefallen. Nur wenn ein Fotograf da war, habe ich mich in Position gesetzt. Jetzt im Alter bin ich eitler geworden, möchte den Leuten kein unappetitliches Äußeres zeigen. Dass man sich mit Kunst beschäftigt, bedeutet, dass man die Schönheit liebt. Ich kann in Schönheit schwelgen, zum Beispiel im Velázquez-Saal im Kunsthistorischen Museum. Diese Bilder sind zum Niederknien schön.

STANDARD: Wenn man Ihre Fotos betrachtet, waren Sie keineswegs eine dicke Tudl, sondern eine unglaublich schöne junge Frau.

Lassnig: Na ja, ich habe eine gewisse ländliche Anmut gehabt. Hübsch war ich nicht, apart vielleicht. Sonst wären mir ja die Männer treu geblieben. Den sehr Hübschen bleiben die Männer treu.

STANDARD: Vielleicht haben sich die Männer vor Ihnen gefürchtet, weil Sie stark waren?

Lassnig: Ja, das mag sein. Und weil ich immer die Wahrheit sage. Das fällt mir heute noch schwer: zu schweigen.

STANDARD: Einer der Männer, der Sie verehrt hat, war Arnulf Rainer, den Sie am Ende Ihres Studiums kennengelernt haben.

Lassnig: Da bin ich immer mit Rainer im Zusammenhang genannt worden, wie wenn ich seine Schülerin wäre. Das war ein fürchterlicher Schlag für mich. Ich habe angefangen wie ein stolzer Schwan.

STANDARD: Sind Sie eigentlich eifersüchtig?

Lassnig: Wenn ich zurückgesetzt war, als Kind, als Frau, als Künstlerin, war ich traurig und eifersüchtig. Aber in der Kunst ist Eifersucht ein Ansporn.

STANDARD: In Ihren "drastischen Bildern" erzählen Sie auch von Ihren Illusionen, von den versäumten Heiraten, der versäumten Mutterschaft. Bereuen Sie es, dass Sie sich für die Kunst und gegen eine Familie entschieden haben?

Lassnig: Ich glaube, dass ein Maler die Liebe nicht so dringend braucht wie ein Dichter. Als ich jung war, war ich oft verliebt, zu oft. Später habe ich mich auf die Arbeit konzentriert. Man hat einer Frau nie so viel geglaubt wie einem Mann. Nach der Tradition hat man gesagt: 'Die wird sowieso heiraten.' Zu den heiligen Zeiten fühlt man sich vielleicht arm und einsam. Und es wäre sicherlich angenehm, jemanden zu haben, mit dem man reisen kann. Aber Kinder und Malerei: Das wäre unmöglich gewesen. Noch dazu, weil ich immer alles perfekt machen will. Wenn ich geheiratet hätte, hätte ich ja auch kochen müssen. Ich war zum Beispiel mit einem Franzosen verlobt. Er war während des Kriegs als Zwangsarbeiter in Kärnten. Aber wie die Franzosen essen! So fein! Ich kannte durch meine Mutter, die ein Bauernkind war, nur Bauernkost. Doch ich bin zu Tränen gerührt, wenn mich ein Kind streichelt oder eine Katze umstreicht. Und es tut mir um jeden Kuss leid, den ich nicht gegeben habe.

STANDARD: Ab wann wussten Sie, dass Sie Malerin werden wollen?

Lassnig: Mit sechs habe ich begonnen, Alte Meister zu kopieren. Wir hatten im Geschichtsbuch einen Dürer, den habe ich unter der Bank abgezeichnet. Oder ich habe meine Freundinnen porträtiert. Ich habe immer schon gern Menschen angeschaut, das genieße ich auch heute noch in der Straßenbahn: die Leute zu beobachten und zu überlegen, was sie für ein Leben haben.

STANDARD: Zwischenfrage: Fahren Sie deshalb auch nie mit dem Taxi?

Lassnig: Ich mag nicht Taxi fahren, weil ich nicht weiß, wie viel ich Trinkgeld geben soll. In der U-Bahn brauche ich kein Trinkgeld geben.

STANDARD: Zurück zur Kindheit in Klagenfurt.

Lassnig: Meine Mutter und ich haben mein zeichnerisches Talent vergessen, Meine Mutter wollte, dass ich heirate - Sicherheit durch den Ehemann. Und ich, ich bin damals halt einfach dahingetrottet wie ein junges Kalb. Mein Weg war nicht vorgezeichnet.

STANDARD: Zwei unglaublich starke und berührende Bilder sind "Mutter und Tochter" und "Tote Mutter". Welches Verhältnis hatten Sie zur Mutter?

Lassnig: Mein Vater verließ meine Mutter bei meiner Geburt. Ich war ein richtiges Mutti-Kind. Wie sehr ich sie gebraucht habe, habe ich erst gemerkt, nachdem sie gestorben ist. Ihr Tod war das schrecklichste Erlebnis meines Lebens. Dass ich sie als Tote auch gemalt habe, kommt mir jetzt komisch vor. Aber wenn man jung ist, hat man eine rohere Seele als im Alter.

STANDARD: Sie haben ein Jahr an einer Volksschule im Metnitztal unterrichtet, viele, viele Jahre später haben Sie an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien unterrichtet, als erste Professorin an einer Kunstuniversität. Haben Sie das gern gemacht?

Lassnig: Nein, nie. Weder in der Volksschule noch später an der Akademie. Es verlangt so viel von einem. Mit Kunst hat das nichts zu tun, außer man sieht das Lehren als Kunst an.

STANDARD: Als junge Lehrerin sind Sie 1941 mit dem Rad zur Aufnahmeprüfung von Kärnten nach Wien gefahren.

Lassnig: Ich war ein "Wandervogel". Das waren damals junge Leute, die zurück zur Natur wollten. In der Klosterschule bei den Ursulinen war ich gerade mit dem Gegenteil konfrontiert gewesen: Damit ich sonntags in die Natur durfte, brauchte ich fast eine Bestätigung vom Arzt. Man musste sich entschuldigen, dass man nicht in die Kirche ging. Und wir waren halt ein paar Leute, die lieber in die Natur wollten. Außerdem hatte ich kein Auto, ich habe hundert Schilling verdient als Lehrerin in Feistritz. Aber nach Wien hat man schon sehr viel treten müssen.

STANDARD: Sie haben die Aufnahmeprüfung an der Akademie bestanden, bei Wilhelm Dachauer zu studieren begonnen, mussten die Klasse aber, weil man Ihre Arbeit als "entartet" eingestuft hat, bald wieder verlassen, haben dann bei Ferdinand Andri und Herbert Boeckl studiert, sind 1945 nach Klagenfurt zurück und hatten hier 1948 Ihre erste Ausstellung mit Körperbewusstseinszeichnungen. Was verstehen Sie unter "Körperbewusstsein"?

Lassnig: Am Anfang waren es introspektive Erlebnisse, später nannte ich es Körpergefühle. Aber Körpererfahrungen trifft es besser. Man dachte: Es sind die großen Gefühle, die ich male. Aber es sind eher Erfahrungen: Streckempfindungen, Druckempfindungen, Völle, Leere. Schwierig ist die Umsetzung. Denn Gefühle haben keine sichtbaren Grenzen. Es ist eine subjektive Erfahrung, die von anderen, den Betrachtern, nachvollzogen wird. Diese Körpergefühle ändern sich von Sekunde zu Sekunde.

STANDARD: Ich habe Sie für ein Filmporträt beim Malen beobachtet - oder besser gesagt: Wir haben Sie mit der Kamera im Atelier alleingelassen. Jedenfalls konnte man dann sehen, dass Sie mit geschlossenen Augen malen.

Lassnig: Früher habe ich die Augen geschlossen, das brauche ich jetzt nicht mehr. Ich habe das Innengefühl auch so. Ich beginne immer mit den Konturen. Wichtig ist: Man darf keine Körperschmerzen haben beim Malen. Kafka hat immer gesagt: Kunst kommt von Schmerzen. Das stimmt nicht, zumindest nicht bei mir. Ich fange immer mit der Körpererfahrung an, aber dann kommen Weltprobleme hinein, die mich gerade beschäftigen: etwa, wie die Natur von den Menschen malträtiert und dezimiert wird. Wenn ich am Land bin, sehe ich mehr als die Bauern und mache sie darauf aufmerksam, was sich alles verändert hat. Durch die Wege der Forstwirtschaft werden die Rehe, die Landschaft und die Kleintiere sowieso ausgerottet. Auch mit den Blumen ist es so, die Landschaft sieht aus wie mit dem Staubsauger gesaugt. Die Forstwege sind wie Wunden im Wald. Wenn mir etwas in der Außenwelt gegen den Strich ging, ist es eingeflossen. Das Krankenhaus. Krieg. Existenzielle Fragen eben. Ursprünglich ist es nur ein Körpergefühl, aber die Seele ist auch da. Man kann nicht verhindern, dass das Herzblut fließt.

STANDARD: "Trauer über die Seltsamkeiten und Teilnahme am Weltgeschehen": Auch das ist ein wesentlicher Teil Ihrer Arbeit, etwa das "Tschernobyl Selbstporträt" oder eben auch Bilder, in denen Sie den Krieg thematisieren.

Lassnig: Diese Bilder sind die Summe meiner schrecklichen Zustände, wenn ich an den Krieg denke. Sie sind keine Illustrationen des Kriegs. Wenn ich im Fernsehen Kriegsbilder sehe, fange ich automatisch zum Weinen an.

STANDARD: Und Männerakte wie "Der Weltzertrümmerer"?

Lassnig: Ich habe immer nach innen geschaut, bei diesen Bildern wollte ich wieder nach außen schauen. Das war meine Herausforderung. Es ist ein inneres Bedürfnis, die Sichtweise zu verändern. Das ist ein seelischer Vorgang.

STANDARD: So wie die in Zellophan eingewickelten Menschen, die Sie gemalt haben?

Lassnig: Das Zellophan ist durchsichtig, aber man sieht trotzdem nicht hinein in die Menschen.

STANDARD: Wie wichtig sind die Titel Ihrer Bilder?

Lassnig: Sie entstehen nachher. Das ist Poesie. Sie können aber auch irreführen. Es ist nicht wie bei gewisser politischer Kunst, wo man Schlagworte malt. Ich gehe ohne Absicht an die Malerei heran. Ich habe einen Ansatzpunkt, der aus der Erkenntnis entstand, dass das einzig mir wirklich Reale meine Gefühle sind, die sich innerhalb des Körpergehäuses abspielen. Und dann male ich wirklich so, wie ich es spüre, fühle, die Schulter ganz drin, stößt direkt auf die Hüfte.

STANDARD: Viele Künstler sagen, das Schwierigste sei es, ein Bild zu beginnen; viele aber sagen, das Schwierige sei, im richtigen Augenblick mit dem Malen aufzuhören.

Lassnig: Es gibt Maler, die noch Jahre weitermalen. Es gibt Künstler, die Umformer sind, die aus Fertigteilen etwas machen. Das bin ich nicht. Ich weiß, wann das Bild fertig ist.

STANDARD: Geben Sie Ihre Bilder gern zu Ausstellungen?

Lassnig: Nein. Noch schlimmer ist nur, wenn sie verkauft werden. Ich gebe meine Bilder sehr ungern her. Aber es ist wie mit dem Gras: Man muss das alte abschneiden, damit neues Gras nachwachsen kann. Ich möchte immer wissen, wo meine Bilder hinkommen. In Amerika ist mir zum Beispiel passiert, dass ein solider älterer Herr eines meiner Bilder erworben hat. Nach ein paar Jahren kam ein Mann mit demselben Bild wieder daher: Es war der Sohn, der das Bild wieder verkaufen wollte. Das war ja noch ein Glück! Das Bild ist nicht verschwunden, wir konnten es zurückkaufen. Aber genauso gut könnte es sein, dass irgendeine Kuchlfee das Bild erbt, die es wegschmeißt, weil sie keine Ahnung hat. Davor habe ich wirklich Angst.

STANDARD: Was hat Ihre Kunst, Ihr Denken beeinflusst?

Lassnig: Platon hat mein Denken sehr beeinflusst. Und ich habe begonnen, alles zu hinterfragen wie Sokrates. Später habe ich mich sehr mit Sartre beschäftigt. Meine Philosophie kommt vom Existenziellen. Ich muss mich spüren. Das Sehen ist nicht so wichtig wie das Spüren.

STANDARD: Sie schreiben in Ihren Tagebüchern von Gedankenfarben, Schmerzfarben und Qualfarben, Druck- und Völlefarben, Todes- und Verwesungsfarben, Krebsangstfarben, Fleischdeckenfarben, Nervenstrangfarben, Press- und Streckfarben, Ihren "Wirklichkeitsfarben".

Lassnig: Meine Farberfahrungen an der Akademie habe sich auf braune Soße beschränkt. Ich musste erst lernen, dass es von mir abhängt, wie die Farbe aussieht; es gibt nicht "die" Farbe. Ich habe die Relativität durch die Farben kennengelernt. Ich habe auf einen winzigen Fleck geschaut – so lange, bis ich ihn analysiert habe. Anfangs sieht man ja die Farbe ganz normal, Rot als Rot, Blau als Blau etc. Ich musste mir das Farbsehen der Impressionisten selbst beibringen. Mit Scheuklappen auf einen Fleck zu schauen hat mich gelehrt, dass ich Herr der Farbe bin. Je weniger ich mit Absicht anfange, umso besser.

STANDARD: "Einsiedlerin" heißt eines Ihrer Bilder. Ausdruck Ihrer Position als Einzelkämpferin?

Lassnig: Ich hatte Kontakt mit der Künstlergruppe St. Stephan, Monsignore Mauer hat mich öfter eingeladen. Aber ein richtiges Gruppengefühl hatten nur die Männer. Später in Paris hatte ich freundschaftliche Kontakte zu den Künstlern.

STANDARD: In Paris haben Sie Paul Celan und André Breton kennengelernt - und die informelle Malerei. Aber auch Paris wurde Ihnen zu eng, 1968 fuhren Sie mit dem Schiff nach New York.

Lassnig: Ich bin mit einem Einwandererschiff gefahren und hielt ein großes Schild mi "Maria"; aber niemand war am Hafen. Das ist ziemlich schrecklich: Wenn man in einem fremden Land ankommt – und niemand holt einen ab. In Paris hat man immer gesagt, in Amerika haben es die Frauen leichter. Aber für mich war es anfangs schwer, doch ich habe gelernt, nicht alles tragisch zu nehmen.

STANDARD: Und Sie haben sich gemeinsam etwa mit Louise Bourgeois in der "Women's Lib" engagiert. Ein Bild aus dieser Zeit heißt. "Woman Power" Sind Sie immer noch Feministin?

Lassnig: Ich glaube, wenn man eine nachdenkliche Frau ist, ist Feminismus nicht zu vermeiden.

STANDARD: Damals haben Sie sich auch einer neuen Kunstform zugewendet: Sie haben Zeichentrickfilme gemacht. Als wir Louise Bourgeois besucht haben, hat sie das besonders hervorgehen: dass Sie die Erste waren, die wirklich Kunst in den Zeichentrickfilm eingeführt hat.

Lassnig: Das ist damals in der Luft gelegen. Jeder Student hat Filme gemacht, das hat mich fasziniert. Es gab richtige Eifersüchteleien zwischen Malern und Filmemachern. In New York habe ich mich eher zu Filmemachern hingezogen gefühlt, weil ich als Malerin keinen Anklang fand. Wahrscheinlich hat mich auch der Kontrast angezogen. Wenn ein Maler Filme macht, dann ist es so, wie wenn ein buddhistischer Mönch Motorrad fährt. Es gibt einen großen Unterschied zwischen den beiden Sparten: Der Maler arbeitet allein in seiner Klause, bei Filmen ist man sehr abhängig von Mitarbeitern. Aber es war schon furchtbar aufregend, eine Zeichnung sich bewegen zu lassen. Das war schon ein verwegenes Unternehmen (lacht). Bei diesen Zeichentrickfilmen konnte man auch seine Talente für Musik und Politik einbringen, das, was einen interessiert. Meine Filme waren immer sehr erzählerisch und immer sehr nah bei mir.

STANDARD: Ihre Filme sind sehr autobiographisch und (selbst-)ironisch.

Lassnig: Anders kann man das Leben doch gar nicht betrachten. Da gibt es so viel Bitternis, dass man nur ironisch sein kann. Beim letzten Film war ich gerade in einer sehr depressiven Stimmung, ich wollte mich mit dem Film aus der Depression herauskatapultieren.

STANDARD: Beschäftigen Sie sich mit dem Tod?

Lassnig: Ich hatte immer schreckliche Angst, ich habe den Tod abgelehnt und fand es eine wahnsinnige Verschwendung, dass das Leben plötzlich aus ist. Warum das Lebensende am Höhepunkt? Nach meinem Oberschenkelhalsbruch ging es mir sehr schlecht, ich habe gefühlt, dass ich nur mehr an einem sehr dünnen Faden an der Welt hänge. Das spürt man. Susan Sontag hatte eine Schreiberin, die ihre letzten Stunden hätte beschreiben sollen. Die Amerikaner sind da sehr realistisch, sie sehen das Wichtige. Und es ist wichtig für die Welt, wie ein Mensch das Sterben erlebt. Aber es ist sehr schwer, darüber zu reden. Vielleicht kann man das nur, wenn es einem wieder besser geht. Vielleicht werde ich es einmal beschreiben können. Aber jetzt sehe ich, dass man sich von der Welt langsam entfernt. Eigentlich stelle ich mir meinen Tod sehr sanft vor. Irgendwann. Dann.    (Andrea Schurian, Album, DER STANDARD, 1./2.6.2013, Langfassung)