"Ethik pur ist nicht zu haben", sagt Johannes Rohbeck, guter Ethikunterricht sei interdisziplinärer Philosophieunterricht.

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STANDARD: Sie konstatieren einen "Ethikboom in der Bildungspolitik". Was unterscheidet Bildungspolitik ohne Ethik von jener mit?

Rohbeck: Ich kritisiere eine tendenzielle Verabsolutierung der Ethik, die in Deutschland schon beinahe die Funktion einer Leitdisziplin erhalten hat, wenn es um Fragen lebensweltlicher Orientierung geht. Dabei ist das Problem eines verstärkten Bedarfs an Orientierungswissen unbestreitbar. Ich bestreite hingegen, dass dieser Bedarf an Orientierung durch eine isolierte Ethik optimal gestillt werden kann. Mein fachbezogenes Argument lautet, dass Ethik pur nicht zu haben ist, sondern ihre Stärken nur im Zusammenhang mit anderen Disziplinen der Philosophie zu entfalten vermag. Das gilt auch für den Unterricht, dass nämlich die Tradition der Philosophie einen bestimmten Standard der Problematisierung und Begründung gewährleistet. Ethikunterricht wird auf diese Weise vor der Gefahr einer neuen Indoktrinierung bewahrt.

STANDARD: In Österreich hält sich dieser Ethikboom insofern in Grenzen, als Ethik seit 1997 nie über das Schulversuchsstadium als Ersatzfach für "Religionsabmelder" bzw. konfessionsfreie Schüler/-innen hinausgekommen ist. Soll ein Schulsystem in einem multikonfessionellen, säkularen Staat Ethikunterricht verpflichtend implementieren?

Rohbeck: Ich vertrete die Auffassung, dass der Ethikunterricht überall als Pflichtfach eingeführt werden sollte. Die Regelung Ethik als "Ersatzfach" für Religion hat historische Gründe. Es ging darum, die abgemeldeten Schüler zunächst einmal versicherungstechnisch zu beaufsichtigen, dann irgendwie zu beschäftigen und schließlich mit Themen der Moral bekanntzumachen. Heute nehmen in manchen Bundesländern wie in Sachsen, wo ich lehre, mehr Schüler am Ethikunterricht als am Religionsunterricht teil. Von "Ersatz" kann also keine Rede mehr sein. Und da gibt es gute Gründe, für alle Schüler einen weltanschaulich neutralen Unterricht verpflichtend zu machen. Entsprechende Modelle dafür sind das Fach "Ethik" in Berlin oder "Lebensgestaltung, Ethik, Religion" im Land Brandenburg. Ein solches integratives Fach hat gegenüber dem "Ersatzfach" viele Vorteile. Es versammelt alle Schüler aller religiösen Konfessionen und anderen Weltanschauungen in einem gemeinsamen Unterricht. So kann es dazu beitragen, den Dialog zwischen den Kulturen zu fördern und zur gegenseitigen Toleranz zu erziehen.

STANDARD: Wie viel Religion verträgt eine säkulare Demokratie, und wie viel staatlich organisierte Ethik in Form von Unterricht braucht sie?

Rohbeck: Jedes demokratische Gemeinwesen hat selbstverständlich alle Religionen zu respektieren, da sehe ich keinerlei Grenzen des zu Tolerierenden. Ich würde die Frage lieber umkehren. Ich plädiere dafür, dass der Staat und das dazu gehörende Bildungssystem stärker als bisher denjenigen eine Stimme verleihen, die keiner religiösen Konfession angehören. Nicht nur die Kirchen, sondern auch die Atheisten haben meiner Auffassung nach ein Recht auf Mitsprache in öffentlichen Gremien und Kommissionen. Auf diesem Feld gibt es in Deutschland bereits einige Initiativen.

Was den Ethikunterricht betrifft, warne ich vor einer Engführung. Wenn das Fach Ethik für die Schüler in der Sekundarstufe I, in Deutschland ab Klasse 7, beginnt und bis zur Matura weitergeht, ist mit Ermüdungserscheinungen zu rechnen. Ein solcher Ethikunterricht läuft spätestens in der Sekundarstufe II Gefahr, zum Plauderfach zu werden. Es ist sogar nicht auszuschließen, dass ein gewisser Überdruss erzeugt wird. Zugespitzt formuliert: Zu viel Ethik schadet der Moral. Stattdessen spreche ich mich für einen interdisziplinären Philosophieunterricht aus, der in einigen Bundesländern Deutschlands, vor allem in Nordrhein-Westfalen, etabliert und sehr erfolgreich ist.

STANDARD: Wie viel Religion verträgt umgekehrt das Schulsystem?

Rohbeck: Auch hier geht es nicht um Verträglichkeit, sondern um das Selbstverständnis eines Schulsystems in einer pluralistischen Gesellschaft. An dieser Stelle orientiere ich mich an der Bildungspolitik in Frankreich, wo der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen nicht erteilt werden darf. Auch in Berlin ist der Religionsunterricht allein Sache der Kirchen – ausdrücklich ohne Beteiligung des Staates.

STANDARD: Was macht gute Ethiklehrer/-innen aus? Sie stehen ja in den Augen vieler Eltern unter dem Verdacht, staatliche " Gesinnungsindoktrinatoren" zu sein ...

Rohbeck: Von der Gefahr einer "Indoktrination" habe ich ja bereits gesprochen. In der Tat sehe auch ich die Tendenz, dass in einem puren Ethikunterricht nur bloße Meinungen mitgeteilt und ausgetauscht werden. Dagegen biete ich einen Unterricht auf, der die Philosophie in ihrer ganzen Breite mit möglichst vielen philosophischen Disziplinen darbietet: also Anthropologie, Staats- und Geschichtsphilosophie, Erkenntnistheorie und so weiter. Übrigens gehören dazu die lange Tradition der Religionskritik wie auch die prinzipielle Kritik an der Ethik, die in der Philosophie etwa bei Nietzsche prominent vertreten sind. Für die Ausbildung von Ethik- und Philosophielehrern hat das zur Konsequenz, dass sie nicht nur eine verengte Ethik, sondern auch die Philosophie in ihrem ganzen Umfang und in ihrer spezifischen Tiefe vermitteln können.

STANDARD: Sie sind Professor für "Praktische Philosophie" – wie erklären Sie sich die Konjunktur der Philosophie beziehungsweise philosophischer Handreichungen für ein gutes oder besseres Leben? Die Buchhandlungen sind ja voll damit.

Rohbeck: Offenbar besteht ein gesteigertes Bedürfnis nach Orientierung in einer Zeit vielfältiger Krisen und Umbrüche. Prinzipiell habe ich nichts gegen populäre Darstellungen. Bereits in der Geschichte der Philosophie gab es während der Epoche der europäischen Aufklärung eine eigene Literaturgattung der sogenannten Populärphilosophie. Auch in der Gegenwart gibt es dafür durchaus gelungene Beispiele wie etwa "Sophies Welt" von Jostein Gaarder oder "Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?" von Richard David Precht. Ich erinnere auch an "Die philosophische Hintertreppe" von Wilhelm Weischedel. In diesen Werken werden philosophische Gedanken auf allgemein verständliche Art dargestellt. Problematisch wird es erst in dem Augenblick, wenn die Aussagen sachlich falsch sind oder daraus direkte Handlungsanleitungen für konkrete Situationen abgeleitet werden. Dadurch wird die Illusion geweckt, die Philosophie halte Rezepte für die konkrete Lebensführung bereit. Das überlassen wir gerne anderen Ratgebern.
(Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, 16.6.2013)