Familientherapeut, Autor und derStandard.at-Kolumnist Jesper Juul.

Foto: Family Lab

Diese Serie entsteht in Kooperation mit Family Lab Österreich.

Foto: Family Lab

Vor einiger Zeit habe ich einen Artikel über Belohnung als Teil der Kindererziehung verfasst. Meine Aussagen haben eine breite Debatte verursacht. Ich war sehr überrascht, wie viele Menschen glauben, dass es in Ordnung ist, Kinder zu belohnen, um als Erwachsener etwas von ihnen zu bekommen. Unter anderem stellte ich damals die Frage: Sollen Kinder belohnt werden, wenn sie auf das Töpfchen gehen oder höflich sind?

Das Belohnen hat vor einiger Zeit den Markt der Erziehungsmethoden erobert und wird heute sowohl in Kindergärten als auch in Schulen praktiziert. Irgendwann hat jemand damit angefangen, und andere sind dem gefolgt. Aber tun wir unseren Kinder damit wirklich etwas Gutes?

Um das zu beantworten, müssen wir zuerst unterscheiden, ob das Kind für eine Leistung belohnt wird - zum Beispiel in der Schule, beim Sport oder in der Theatergruppe - oder für ein erwünschtes Verhalten, wenn das Kind sich etwa den elterlichen Vorgaben gemäß verhält.

Die zweite Option, nämlich das kindliche Verhalten durch Belohnung zu kontrollieren und zu steuern, ist meiner Meinung nach ein Missbrauch von Macht. Andernfalls wäre es nur damit zu entschuldigen, dass viele Menschen immer noch glauben, dass Kinder sich absichtlich schlecht benehmen, um Erwachsene zu ärgern. Diese Theorie wurde allerdings bereits vor mehr als 20 Jahren widerlegt.

Immer mehr wollen

Das Problem mit der Belohnungsmethode ist, dass sie tatsächlich oft funktioniert, ganz besonders bei ein- bis fünfjährigen Kindern. Aber meist nur für kurze Zeit. Danach stellen sich die Kinder darauf ein, sie ignorieren entweder das System oder fordern eine immer größere Belohnung.

Ein anderes Problem ist, dass die Methode logischerweise nach Bestrafung verlangt, wenn die Belohnung nicht mehr funktioniert. Aber das ist nicht die offizielle Version. Viele Eltern sehen zunächst nur die eine Seite und landen dann trotzdem bei der Zuckerbrot-und-Peitsche-Methode.

In der Debatte nach meinem Artikel zeigten sich manche Eltern überzeugt, dass es unmöglich ist, Kinder ohne Strafe zu erziehen. Sie setzen auf Einschüchterung. Auch im schulischen Kontext wird das oft so gemacht - wenn auch nicht in aktiver Art und Weise.

Die Frage, ob Erziehen ohne Strafen möglich ist, wurde bereits vor langer Zeit beantwortet: Viele Eltern rund um den Globus lassen ihre Kinder ohne Strafen heranwachsen - und das mit großem Erfolg. Die Antwort lautet also: Ja, es ist möglich! Deshalb müssen wir die Frage vielleicht anders formulieren: Gibt es Eltern, die ihre Kinder ohne den Einsatz von Strafe und Belohnung erfolgreich großziehen? Ja, die gibt es.

Die Manipulation wurde sanfter

Die Entscheidung, wie wir als Eltern unsere Kinder großziehen, ergibt sich aus einer wunderbaren Mischung aus Erfahrungen und Vorgaben verschiedener Ursprünge. Manche denken an ihre Kindheit und agieren aus einem Impuls heraus, andere bleiben bei der alten Tradition, die besagt, dass es das elterliche Recht und auch die Pflicht sei, Kinder zu formen und der Gesellschaft anzupassen.

Im Laufe der Zeit haben wir die Manipulation unserer Kinder immer sanfter gestaltet. Wir haben unsere Beziehung zu ihnen demokratisiert und gewähren ihnen größere Autonomie und das Recht, ihre eigene Wahl im Leben zu treffen. Beides sind meines Erachtens gute Ideen.

Viele Erwachsene hadern heute damit, ob sie tatsächlich die Erwachsenen sind, die sie immer sein wollten. Sie wollen vieles mit sanfteren Mitteln erreichen, aber das ist schwierig. Das konfrontiert uns Erwachsene mit der Wahlmöglichkeit: Werden wir effizientere Erziehungsmethoden finden, oder überdenken wir unsere Erwartungen und Anforderungen?

Viele Eltern mögen es beispielsweise, wenn ihr Kind ruhig bei Tisch sitzt und isst. Als Kind hatte ich einen Freund, bei dem ich sehr gerne aß. In seiner Familie war es nett, sich bei Tisch zu unterhalten, das Essen selbst auszuwählen, und es herrschte nie Hektik am Tisch. In allen anderen Familien, meine eigene eingeschlossen, war die Stimmung angespannt, und es herrschte die Überzeugung, dass Kinder "gesehen, aber nicht gehört" werden sollten. Es ging darum, das Essen irgendwie zu überstehen, Beschimpfungen und Bestrafungen zu vermeiden und so schnell wie möglich wieder an die frische Luft zu kommen.

Führung gegen das Chaos

Heutzutage erleben viele Familien ein regelrechtes Chaos bei Tisch. Diesem Chaos liegt immer das Fehlen von Führung oder eine schlechte Führung zugrunde. Den Kindern in diesen Familien wird nun die Führungsmethode der Belohnung angeboten: "Wenn du ruhig sitzt und brav isst, bekommst du ..." Ist das eine angemessene Entschädigung für eine schlechte elterliche Führung oder ein wünschenswerter Ersatz für eine gute Beziehung?

Das eigentliche Problem ist sehr viel komplizierter: Es ist die Botschaft hinter der Belohnung, die dem Kind mitteilt: "Ich vertraue nicht darauf, dass du dich angemessen benimmst, wenn ich dich nicht belohne." Das ist ein eindeutiger Misstrauensantrag an das Kind. Er ignoriert die nachgewiesene Fähigkeit des Kindes und seine Bereitschaft, sich "anzupassen" und zu kooperieren. Die überwiegende Mehrheit von Eltern, die ich kennengelernt habe, wünscht sich, dass ihre Kinder mit viel Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen aufwachsen. Ganz anders als die Generation meiner Eltern.

Strafe und Belohnung als Verhaltensmethoden haben eines gemeinsam: Sie setzen Endorphine im Gehirn der Kinder frei. Ein Hormon, das ein kurzfristiges Glücksgefühl verursacht, wie beim Sport oder dem Einkaufen. Aber das Hormon wird nicht im "Selbst" gespeichert. Es erzeugt keine existenzielle Substanz, sondern Abhängigkeit. Diese Art der Abhängigkeit verlangt eine permanente Rückbestätigung von außen.

Was zwischen Erwachsenen funktioniert

Ich habe ein altes und wohlerprobtes Prinzip: Wenn es unter Erwachsenen funktioniert, dann funktioniert es auch zwischen Erwachsenen und Kindern. Jede Frau und jeder Mann, die versuchen, den Partner, die Partnerin oder die Freunde mit einem Belohnungssystem zu regulieren, machen sich zum Gespött.

Stellen wir uns vor, dass meine Frau verärgert ist, weil ich am Sonntagmorgen eine Kolumne schreibe, anstatt Zeit mit ihr zu verbringen. Wenn ich davon überzeugt wäre, dass eine Belohnung die angemessene Form für eine auf Liebe basierende Beziehung ist, könnte ich Folgendes zu ihr sagen: "Wenn du still bist, bis ich mit dem Schreiben fertig bin, können wir am Nachmittag zum Strand gehen."

In diesem Fall wäre Liebe ein Tauschhandel. Der einzige Unterschied zwischen meiner Frau und meinem Kind ist, dass mich mein Kind bedingungslos liebt und es deshalb viel einfacher ist, es zu manipulieren. Aber ist es das, was ich will? (Jesper Juul, derStandard.at, 14.7.2013)