Mir war von einer sehr alten Dame berichtet worden, die in einem Tal im Montafon in Vorarlberg lebte und von der man behauptete, sie könne in die Zukunft schauen und sie könne Unheilbare heilen. Sie sei über neunzig Jahre alt und lebe allein, verfüge aber über ein Mobiltelefon. Ich erreichte sie nach einigen Versuchen, und sie sagte mit fester Stimme, dass sie mich "empfangen" wolle. Ich fuhr mit Zug und Autobus. Am Ende ging es beschwerlich und kurvenreich durch den Wald, und nachdem ich als Letzte an der letzten Haltestelle ausgestiegen war, musste ich noch eine halbe Stunde steil aufwärtsgehen und war dann an der Baumgrenze.

Sie hatte mir am Telefon genau den Weg beschrieben und gesagt, dass die Tür offen stehe, weil sie schwer zu Fuß sei. Ich trat durch den niedrigen Eingang in einen Vorraum, so dunkel hier, dass ich blind war, rief, ich sei hier, und rief meinen Namen und den Namen der Frau. Eine Tür öffnete sich. Das Zimmer war mit Teppichen ausgelegt. Die Teppiche standen an den Wänden kniehoch nach oben, manche wölbten sich nach vorne. Auch an den Wänden hingen Teppiche, manche waren ein Stück weit auf die Decke genagelt. Eine Höhle war das. Die Frau saß in einem Lehnstuhl, sie hatte die Tür mit ihrem Stock aufgezogen, nun stieß sie sie wieder zu. Sie war zart, wirkte nervös, reichte mir ihre Spinnenfinger und sah mich scharf an. Ihr Körper war in eine bunte Decke gehüllt, auf der Decke glaubte ich Menschenköpfe zu erkennen. Ihr Haar war silberweiß und leuchtete. Wie auf alten Bildern, die mit Hand koloriert waren und chinesische Opiumsüchtige zeigten, so war ihre Haut, glatt und gelb und makellos und ohne Leben. Man hatte mir erzählt, dass sie viel gereist sei und sich vor zehn Jahren in diesem Haus niedergelassen habe. Eine Frau aus dem Dorf brachte ihr jeden Donnerstag wenige Lebensmittel und versorgte sie mit Medikamenten, der Arzt besuchte sie einmal im Monat, aber er unterhalte sich nur mit ihr und lerne von ihr. Es kamen Einheimische, um sich bei ihr Rat zu holen, ob der nun Tiere oder Menschen betraf. Man sagte ihr Erfolge bei der Heilung der kompliziertesten Krankheiten nach. Außerdem hieß es, sie sei schon hundertmal gestorben.

Ich wollte nach unserem Gespräch ihren Arzt aufsuchen und ihn um seine Meinung bitten und ihn bitten, von seinen Erfahrungen mit ihr zu berichten. Ein Freund, ebenfalls Arzt, hatte mir einmal gesagt, mit der ärztlichen Schweigepflicht werde es bei Patienten über achtzig nicht mehr so genau genommen, über achtzig gehöre man sozusagen allen.

Wie eine Heilige gehandelt

Die Frau war eine Dame. Auf dem Land, noch strenger in den Bergen, wird genau unterschieden. Immer noch. Der Unterschied war deutlich zu erkennen. Ihre Lippen waren geschminkt, ihre Nägel lackiert, die Augen nachgezogen. Sie hatte einen kantigen Ton in der Stimme. Sie wies mich an, auf dem Schemel zu ihren Füßen Platz zu nehmen. Es war eine Anweisung, eigentlich eine Zurechtweisung. Während unseres Gesprächs begann es zu regnen, immer stärker, irgendwann fiel der Strom aus, und wir saßen im Dunkeln. Ich hatte vergessen, mein Handy aufzuladen. Wir waren ganz für uns, und mir war schaurig zumute. Sie zündete eine Kerze an, die verlöschte gleich wieder, sie versuchte es noch einmal, ohne Erfolg. Sie kommentierte weder den Regen noch den Stromausfall noch die widerspenstige Kerze noch die Dunkelheit.

Sie erzählte. Sie erzählte von ihrer Rückkehr nach Europa. Dass man Geister mit sich schleife von Kontinent zu Kontinent. Sie erzählte von ihren Reisen durch die Mongolei. Sie hatte dort siebenundzwanzig Jahre gelebt und die Kunst des Heilens erlernt und die Kunst bald besser beherrscht als ihre Lehrer und war am Ende wie eine Heilige behandelt worden.

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Sie erzählte von ihren Reisen durch die Mongolei.

Sie sagte: "Die Menschen haben mich wie eine Heilige verehrt, und ich habe es mir gefallen lassen." Ich fragte: "Was meinen Sie damit?" "Ich habe wie eine Heilige gehandelt", antwortete sie. "Und wie handelt eine Heilige?" "Sie tut Gutes, und sie ist manchmal grausam." "Grausam? Wie grausam?" "Wenn ich nicht helfen konnte, habe ich zugesehen, wie der Tod kam. Ich habe die Augen nicht vor ihm verschlossen." "Das ist grausam?" "Grausam ist, wer nie weint." "Und Sie haben nie geweint?"

Ihr Leben bei den Nomaden hatte sie widerstandsfähig gemacht, sie hatte extreme Kälte ertragen und extreme Hitze, sie hatte sich von Schafen ernährt und von Maden, die sich von Schafen ernährt hatten. Sie hatte manchmal zwanzig Stunden geschlafen und manchmal fünfzig Stunden nicht geschlafen. Sie konnte fünf Liter Wasser auf einmal trinken und zehn Tage lang gar nichts trinken.

"Mit der Zeit habe ich mich selbst wie eine Heilige gefühlt." "Wie fühlt es sich an, eine Heilige zu sein?""Man fühlt nichts. Man hängt an niemandem, man erinnert sich nicht an den vorangegangenen Tag und erinnert sich nicht, dass man ein Kind war, und man liebt niemanden. Deshalb weint man nicht. Erst staunt man über sich, dann nicht mehr. Man hat mit dem, der staunt, nichts mehr zu tun. Man hilft, aber man hat keine Freude. Das merken die Menschen und finden das grausam. Sie denken, sie hilft, weil sie helfen muss, und nicht weil sie helfen will, und darum dachten sie, ich sei eine Heilige." Das Leben hier in den Vorarlberger Bergen falle ihr leicht. "Die Menschen essen, was lebendig ist oder lebendig war, aber alles, was lebendig ist oder lebendig war, essen sie nicht. Vieles essen sie nicht. Würden sie alles essen, es gäbe keinen Hunger. Ich esse alles."

Sie erzählte mir die Geschichte, als sie dem Gobi-Bären begegnet war, dem Mazaalai. Es war ein männliches Tier und über zwei Meter lang. Es ist der Bruder des Braunbären, aber er ist größer und stärker und gefährlicher. Er sei einer, der alles frisst, alles, was lebendig ist oder lebendig gewesen ist. Dieser hatte Menschen gefressen und Hunde, er hatte kleine Kinder in der Mitte auseinandergerissen, er war an den Kugeln, die auf ihn abgefeuert worden waren, nicht gestorben, er hatte sich in die Träume der Jäger geschlichen, das waren die stärksten Männer gewesen. "Er hat sich in ihren Gehirnen niedergelassen", sagte sie. "Wie soll das gehen?", fragte ich. "Es war so. Sie sind verrückt geworden vor Angst. Er hat in ihrem Gehirn Schaden angerichtet." "Sie meinen das im übertragenen Sinn." "Dort gibt es nichts im übertragenen Sinn. Nur bei uns gibt es etwas im übertragenen Sinn. Wenn wir etwas nicht glauben, sagen wir, es sei im übertragenen Sinn gemeint. Das Evangelium ist im übertragenen Sinn gemeint, Märchen sind im übertragenen Sinn gemeint. Wo steht das geschrieben? Ich sage: Er war in ihrem Gehirn."

"Bin ich zu materialistisch, wenn ich mir nicht vorstellen kann, wie ein zwei Meter großer Braunbär im nicht übertragenen Sinn im Hirn eines Mannes sein Unwesen treibt?" "Es war so", antwortete sie. "Mehr kann ich dazu nicht sagen. Ich habe den Mazaalai aus dem Gehirn der Männer herausgeführt. Ich habe ihn gelockt, ich habe ihm geschmeichelt, habe ihm süßen Honig versprochen. Aber drei von ihnen wollten ihn schon nicht mehr hergeben. Sie sagen, er soll bleiben. Oder wenigstens etwas dalassen. Drei seiner Pfoten hat er gelassen. Der vierte wollte nichts von ihm haben." Und kichernd fügte sie hinzu: "Ehe Sie fragen, junge Frau: Ja, er war gleichzeitig in den Gehirnen von vier starken Männern, Jägern, und ich habe ihn herausgeführt, und er ist mein Haustier geworden, mein hinkendes Haustier." Ich sagte nur: "Ich bin keine junge Frau." Und: "Ich glaube Ihnen."

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Der Braunbär: "Der Mazaalai ist mein Haustier geworden."

Ich konnte nicht mitschreiben, wie ich es mir vorgenommen hatte. Ich erzähle hier aus dem Gedächtnis. Ich sah nichts. Nicht einmal ihre Umrisse. Ich hörte sie aus dem Schwarzen heraus reden. Ich fuchtelte mit der Hand vor meinem Gesicht. Ich sah nichts.

"Was fühlen Sie, wenn Sie die Hand vor Ihrem Gesicht bewegen und sie nicht sehen?", fragte sie.

"Können Sie Gedanken lesen?", fragte ich. "Nein", sagte sie, "aber ich kann mich in andere Menschen hineinversetzen. Also: Was fühlen Sie?" "Sagen Sie mir, was ich fühle!" "Sie werden sich allmählich fremd. Ist es so?" "Ja." "Sehen Sie, darum bewegen Sie die Hand nun nicht mehr vor Ihrem Gesicht. Es ist, als gehöre die Hand nicht zu Ihnen. Sie fürchten, wenn Sie die Hand weiter vor dem Gesicht hin- und herbewegen, zieht diese Fremdheit über Ihren Arm, zu Ihrer Schulter und legt sich schließlich über Ihren ganzen Körper. Habe ich recht?"

Ich hörte meine Stimme.

Sie hatte recht. "Besteht Ihre Heilkunst darin, sich in andere Menschen hineinzuversetzen?", fragte ich. "Jede Heilkunst besteht darin." "Oft besteht die Heilkunst im Verschreiben der richtigen Medizin.""Das ist das Gleiche." "Das verstehe ich nicht." "Manchmal nützen Tabletten, manchmal nicht. In sehr vielen Fällen nützen Placebos. Es genügt nicht, sich nur in Menschen hineinzuversetzen." "Sondern?" "In alles." "Was heißt das? "Alles ist alles. Ich sehe in der Nacht, wenn ich mich in die Dunkelheit hineinversetze, ich lösche den Durst, wenn ich mich in das Wasser hineinversetze. Ich nehme den Kopfschmerz, wenn ich mich ins Aspirin hineinversetze. Man muss nichts können, man muss es nur wollen." "Das heißt, das kann jeder? Jeder, der es will?", schlussfolgerte ich. "Jeder kann es, aber manche können es besser, manche schlechter, manche können es bei wenigen Dingen, manche bei vielen. Und manche können es bei allen Dingen." "Sie können es bei allen Dingen?" "Bei vielen."

Ich wollte eine Frage stellen, traute mich aber nicht. Sie wartete auf meine Frage. Sie wusste, welche Frage ich stellen wollte. Aber sie wollte, dass ich sie stellte. Lange war es still. Sehr lange. Ich hatte zu lange nichts gesagt und fürchtete, meine Stimme würde mir fremd sein und diese Fremdheit würde sich von meiner Stimme auf mein Gesicht ausbreiten und von dort auf meine Brust und auf mein Herz.

Dann fragte ich es doch, wusste aber nicht und weiß es bis heute nicht, ob ich die Frage laut aussprach oder nur dachte: "Sie sind jetzt in meinem Kopf, wie der Mazaalai im Kopf der vier Männer war. Habe ich recht?"

Sie antwortete nicht. Ich nahm das als Zustimmung. "Ich will das nicht", sagte ich. Sie antwortete wieder nicht. "Ich weiß nicht genau, wie Hypnose funktioniert", sagte ich, "und ich weiß vor allem nicht, wie sie funktioniert, wenn der Hypnotiseur nichts sieht und der Hypnotisierte ebenfalls nichts sieht, aber ich weiß, dass Hypnose nicht funktioniert, wenn sich einer nicht hypnotisieren lassen will. Ich will nicht, hören Sie, ich will nicht!" Sie sagte nichts.

Ich spürte, wie sie in meinem Kopf herumging. Wie sie Türen öffnete. Wie sie über Stiegen hinauf- und über Stiegen hinunterging. Wie sie Kästen öffnete. Wie sie in meinem Schreibtisch nach etwas suchte. Wie sie in meinem Badezimmer an meiner Seife roch. Wie sie sich meine Kleider vor die Brust hielt. Wie sie in meiner Küche den Tisch aufräumte. Wie sie sich ein Glas Wein einschenkte. Wie sie meine Pflanzen goss. Wie sie meine Post durchsah. Wie sie meinen Laptop öffnete und meine Mails las.

"Ich will nicht", sagte ich. Ich hörte meine Stimme, sie war schwach. "Ich will bitte nicht. Ich will bitte, bitte nicht." Dann war es wieder lange still. Ich dachte, sie sei eingeschlafen. Ich beugte meinen Kopf an ihre Brust. Ich hörte keinen Atem. Ich griff ihren Puls, da war nichts mehr. Ihre Hände fühlten sich kalt und leer an. Ich tastete mich durch das Zimmer, versuchte vor dem Fenster etwas zu erkennen, hörte nur das Prasseln des Regens. Niemand wusste, wo ich war. Der Kopf der Dame war auf die Seite gerutscht. Sie atmete nicht, weil sie tot war.

Wenn ich als Kind Angst gehabt hatte, war dies meine Methode gewesen: laut reden. Jede meiner Bewegungen beschrieb ich laut: "Ich stehe jetzt von meinem Sessel auf. - Ich gehe jetzt in das andere Ende vom Zimmer. - Ich bin jetzt im anderen Ende vom Zimmer angekommen. - Ich lege meine Hand an die Wand, an der Wand hängt ein Teppich. - Ich taste mich an der Wand entlang, ich erinnere mich, dass in dieser Richtung ein Kamin ist. - Ich habe den Kamin erreicht. - Ich versuche, im Kamin ein Feuer zu machen. Ich habe in meiner Handtasche Zündhölzer, ich muss mich zu meinem Sessel tasten. - Ich habe meinen Sessel erreicht. - Ich weiß, wo meine Tasche ist, ich greife in die Tasche. - Ich halte die Schachtel mit den Zündhölzern in der Hand."

Es gelang mir, den Kamin anzufeuern. Ich vermied es, die Dame anzusehen. Ich legte Scheite nach. Es wurde allmählich warm. Ich konnte meine Hand ansehen, ohne mich zu fürchten. Die Dame saß in meinem Rücken. Ich rieb meine Hände am Feuer, warf ein Schaffell um meine Schultern. Ich tat, als wäre ich allein. Ich versetzte mich in den Zustand des Alleinseins. Diese Frage hatte ich ihr stellen wollen: Ob man sich nur in Menschen und Tiere und Dinge hineinversetzen kann oder auch in Zustände. Ich wollte sie fragen: Können Sie sich in den Zustand des Todes hineinversetzen? Ich war mir sicher, ihre Antwort wäre gewesen: Ja. Ich drehte mich zu ihr um. Sie sah aus wie eine Heilige. Wie die Figur einer Heiligen. Als wäre ihr Gesicht aus Wachs und ihr Körper aus einem Drahtgestänge. Ich sagte: "Ich weiß, dass Sie nicht tot sind. Ich weiß, dass Sie sich nur in den Tod hineinversetzen. Sie wussten, dass ich Ihnen diese Frage stellen wollte. Und weil ich mich nicht getraut habe, sie zu stellen, führen Sie mir die Antwort vor. Aber jetzt ist es genug."

Sie hatte davon erzählt, dass sie in Wien durch den Stadtpark gegangen war. Sie habe sich aufnahmefähig gefühlt wie ein junges Lexikon und habe alles aufgesaugt, was sie sah. "Es ist wunderbar, nach so langer Zeit wieder nach Europa zu kommen", hatte sie gesagt. "Was ist daran wunderbar?", hatte ich gefragt. "Der schöne Unglaube." "Damit kann ich nichts anfangen." "Eben das meine ich." "Erklären Sie es mir, bitte."

"Ich landete in Wien", erklärte sie es mir, "und ich fuhr mit der Schnellbahn in die Stadt, ich spazierte durch den Stadtpark, und ich wusste, meine Leute sind bei mir." "Wer sind Ihre Leute?" "Sie waren bei mir", sagte sie, beantwortete aber nicht meine Frage. "Sie versteckten sich vor mir. Nein, das ist nicht richtig", korrigierte sie sich, "sie versteckten sich vor der Stadt. Sie fürchteten sich vor der Stadt."

Auf den Bänken im Stadtpark seien Planen ausgebreitet gewesen, unter denen bewegte es sich. Menschen hatten sich dort Schlafplätze zurechtgemacht. "Das waren Obdachlose", sagte ich. "Das waren nicht Ihre Leute." Das hatte ich zu ihr gesagt. Ich sah dieses Bild vor mir, die lange Reihe von Bänken im Wiener Stadtpark und die Planen darauf und wie sich die Planen bewegten. Ich tastete mich zu der Dame, um sie erneut anzugreifen. "Du bist tot", sagte ich laut, "jetzt glaube ich es, jetzt sehe ich es. Morgen werde ich dich auf den Tisch heben und aus dir einen richtigen Leichnam machen, einen europäischen." Dann legte ich mich zu ihren Füßen nieder und schlief ein.

Es war Juli, und es schneite

Ich schlief zwei oder drei Stunden. Dann trat ich durch den Vorraum, öffnete die Tür. Es schneite. Es war Juli, und es schneite. Der Schnee reichte mir bis zu den Knien. Und es schneite so dicht, wie ich es nie erlebt hatte. Ich lief ins Haus zurück. Beruhigte mich damit, dass die Frau aus dem Dorf kommen würde, um nach der alten Dame zu sehen. Es war Donnerstag. Aber ich wusste nicht, wie sie durch den Schnee hätte kommen sollen. Immer noch war kein Strom. Mein Handgelenk blutete, und gestocktes Blut sah ich auf der Decke der Dame. Unter den Teppichen an der Wand liegen keine Obdachlosen, dachte ich. Und dachte sogleich: Wie komme ich auf diesen Gedanken? Und ich wehrte mich gegen den Gedanken, dass ich in meinem Kopf ihre Schritte hörte. Hier bin nur ich mit einer Toten. Durch die Fenster sah ich Morgenlicht, Schneetreiben, bald dann reichte der Schnee bis an die Scheibe.

Ich stöberte im Besitz der Dame. Fand Medikamente, eine Bärentatze, kleine Bällchen von Harz, Stofffetzen, die klebrig waren, Nadeln in verschiedenen Größen. Ich stellte mich ans Fenster, las in dem wenigen Licht die Beipackzettel der Medikamente. Fand einige Ampullen Schmerzmittel. Schmerzpflaster. Ich klebte ein Schmerzpflaster an meine Stirn, ein anderes auf meinen Bauch. Ich nahm nervenberuhigende Tropfen und aß aus einem Glas blaue Pflaumen.

Die Tropfen machten mich müde, ich legte mich so weit wie möglich von der Dame entfernt auf den Teppich, deckte mich mit einem anderen Teppich zu und wachte nach einer Stunde fröstelnd auf. Das Feuer war erloschen. Ich räumte den Tisch leer, die Bücher, die Figuren, Perlenschnüre, Kerzenhalter, alles legte ich der Reihe nach an die Wand. Es sah aus wie eine Schlange von Wartenden. In jedem Ding konnte sie sein. In jedem Ding war sie schon gewesen. Ich hob die Dame hoch, sie war leichter, als ich dachte, und bettete sie auf den Tisch. Rechts und links an ihren Seiten zündete ich Kerzen an. Ihr Gesicht war fahl. Ich bemerkte den Schmuck um ihren Hals und die Perlen an ihrem Gürtel. Ihre Haare sahen nicht mehr aus wie leuchtendes Silber. Sie waren verfilzt. Ich kämmte sie. Die Haare reichten ihr bis zu den Oberschenkeln. Ich kämmte vorsichtig. Ich drapierte ein paar von den künstlichen Blumen in ihr Haar, es gab reichlich an den Wänden. Dann drückte ich ihr die Augen zu. Sie klappten nach hinten wie bei einer kaputten Puppe, bei der das Augenband gerissen ist.

Wenig hatte ich erfahren. Ich machte mir Notizen. Versuchte mich an den Wortlaut zu erinnern. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu warten. Ich fand keine Schneeschaufel, und so war es mir nicht möglich, das Haus zu verlassen. Wohin hätte ich auch gehen sollen? Im Schnee hätte ich den Weg nicht gefunden. Es gab reichlich Essen in Gläsern. Eingemachtes Obst, von dem aß ich. Ich probierte, Hirse zu kochen, sie schmeckte nicht. Alle Töpfe, die ich fand, füllte ich mit Schnee und stellte sie aufs Feuer. Das heiße Wasser goss ich vor das Haus, sodass ich hinaustreten konnte, um in die Schneelandschaft zu schauen. Die Bäume hatten sich unter der Schneelast gebogen und sahen aus wie Laternen.

Ich suchte das Zimmer durch. Ich wollte Aufzeichnungen finden. Ich fand unter einem Haufen kleiner Tannenzapfen und Samen in verschiedenen Größen ein vollgekritzeltes Heft. Ich konnte die Schrift nicht lesen. Einige Zeichnungen gab es darin. Menschen unter Planen. Hatte sie also gezeichnet, was ihr im Wiener Stadtpark begegnet war? In meinem Herzen wurde es finster, sobald der Abend einbrach, ich suchte nach Medikamenten zum Schlafen, und bald war auch in mir kein Licht mehr.

Der Mazaalai kam in der Nacht, er legte sich zu der Dame auf das Totenbett, drei seiner Beine waren verstümmelt, nur eine Tatze hatte er noch. Die Teppiche lösten sich von den Wänden, und die Menschen darunter traten hervor, sie waren geschrumpft und nur eine Handspanne groß. Sie reihten sich um das Totenbett auf. Ich hörte sie summen, sie sangen leise. Ich stellte mich schlafend, um die Feier nicht zu stören. "Wenn der Frühling kommt, wird alles gewesen sein", hörte ich mich sagen.

Man hat mich gefunden. Ich habe keine Fragen gestellt. Ich bin nicht gefragt worden. Man war froh, dass ich bald gehen wollte. Nichts von dem Meinen war verlorengegangen. Auch die Rückfahrkarte nicht.     (Monika Helfer, Album, DER STANDARD, 3./4.8.2013)