Novalis' "Fragment" Die Christenheit oder Europa wäre als Gründungsakte der heutigen Union nicht besonders gut geeignet. Politische Belehrung sucht man in dem Text vergeblich. Augenfälliger sind andere Eigenschaften, die den Vortrag des Bergwerkassessors in Weißenfels zu einem Meisterwerk erheben. Friedrich von Hardenberg (1772–1801), so Novalis’ bürgerlicher Name, gehörte der Gruppe der Frühromantiker an. Was immer Friedrich Schlegel, Brentano, Tieck und Novalis sonst miteinander verband: Ihrer Gesinnung nach dürfen sie als die ersten Konzeptkünstler in deutschen Landen angesehen werden.

Von der Kleinstaaterei vor der Haustür angeödet, von der Revolution in Frankreich verwirrt, erklärten die Romantiker ihre Allzuständigkeit für die Welt. Dichter wie Novalis sind Meister der mystischen Spekulation. Ihrer Meinung nach macht den wahren Poeten die Befähigung aus, die Gegenstände seiner Betrachtung ins Unendliche zu "potenzieren".

Kopfarbeiter wie Novalis treiben deshalb Wesensschau. Das Gefühl, sich dem Absoluten stellen zu müssen, nötigt sie zu sonderbaren Anstrengungen. In den Dingen ist der Geist oft nicht zu finden – es sei denn, der Romantiker mengt ihn hinzu. Seiner Intuition nach gibt es ein Absolutes, das sich in unendlich vielen Teilen zu erkennen gibt. Die Poeten sind daher die Agenten eines unsichtbaren Ganzen. Auf die reine Willkür ihrer Eingebungen gestützt, verhelfen sie den "gemeinen" Dingen zu Sinn und Ansehen, indem sie sie poetisch überhöhen.

Im Licht der "progressiven Universalpoesie" ist alles nur im Werden. So auch Europa. Der Vortrag des von mystischer Liebe erfüllten Novalis löste sogar bei seinen Mitstreitern heftiges Kopfschütteln aus. Europa sei ein "christliches Land" gewesen, von einer einzigen Christenheit erfüllt und geleitet. Ehrfurcht, Friede und Gehorsam seien die guten Gaben gewesen, die eine "Zunft" von Priestern an die Menschen weitergab. "Glaube" und "Liebe" sind die wahren Früchte, die der Ehrfürchtige vom Baum der Erkenntnis pflückt. Von schädlicher Wirkung seien "Haben" und "Wissen". Es verwundert kaum, dass Novalis für Reformation und Aufklärung keine rechte Sympathie aufbringt. Begriffe wie "Liebe", "Reich" und "wunderschöne Frau der Christenheit" sind mystisch. Durch sie wird die Idee der Ewigkeit verbürgt. Nur wer die Wechselfälle der Geschichte durch die Kraft liebender Anschauung überwindet, wird der "unendlichen schöpferischen Musik des Weltalls" teilhaftig.

Vollendete Begriffsmusik ist auch Novalis’ Text. Er sieht in Europa eine "unendliche Mannigfaltigkeit" rege werden, die eine "universelle Individualität" hervorzubringen imstande sei. Der kommende Messias wird nicht nur geglaubt, sondern "als Geliebte umarmt, als Luft geatmet" und als Tod wollüstig in das Innere des "verbrausenden Leibes" aufgenommen werden. Novalis starb erschöpft und jung. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 1.8.2013)