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Aufschrei für die Erniedrigten: Robert W. Anderson (Clarence; bei Berg: Schigolch) und Angel Blue (Lulu).

Foto: APA/Stiplovsek Dietmar

Der männliche Blick auf weibliche Hauptfiguren in der Oper habe sie schon immer irritiert, schreibt Olga Neuwirth in den äußerst dichten und manchmal geradezu dichterischen Notizen zu ihrem Musiktheater American Lulu. Das war für die Komponistin einer der Gründe, Alban Bergs Opernfragment Lulu neu zu interpretieren - wenn auch offenbar bei Weitem nicht der einzige.

Denn da gibt es zunächst einmal eine verblüffende musikalische Affinität, mit der Neuwirth die ersten beiden Akte Bergs eingedampft, neu orchestriert und weiterentwickelt hat. Die Komponistin spricht zwar von einem "Rückblick in die Vergangenheit", doch unter ihren Händen wirkt Bergs Expressivität geradezu unerhört neu. Das nachromantische Orchester schmilzt bei ihr auf ein überschaubares Bläserensemble mit kleiner Streicherbesetzung sowie E-Klavier, E-Gitarre und Schlagzeug zusammen.

Vorbild dafür war die "Jazzband"-Passage im ersten Akt bei Berg, und die Anklänge an Unterhaltungsmusik in Lulu hat Neuwirth auch ansonsten systematisch ausgeweitet: vor allen in den eingestreuten Klangcollagen, wo es etwa Einspielungen auf einer Wonder Morton Organ oder auf einer Calliope gibt - einem jener dampfbetriebenen Tasteninstrumente, die auf den Dächern von Mississippi-Dampfschiffen gespielt wurden.

Blues und andere Trübungen

Und so wie Berg die Geschichte, die in den zugrunde liegenden Dramen von Frank Wedekind rund um das Jahr 1900 spielt, in die 1930er-Jahre versetzte, hat Neuwirth auch in dieser Hinsicht ein analoges Vorgehen gewählt:

American Lulu spielt in den 1950er- bis 1970er-Jahren und führt von New Orleans nach New York. Dabei ist die zentrale Thematik, die der farbigen amerikanischen Lulu in Neuwirths Neuinterpretation zuwächst, leider keineswegs rein historisch.

Zwischen 2006 und 2011 hat die Komponistin an ihrer Fassung gearbeitet; 2011 wurde der Sängerin Angel Blue, die damals gerade im Theater an der Wien auftrat, von einem Wiener Taxifahrer unter Hinweis auf ihre Hautfarbe die Mitnahme verweigert.

Und nun gab die Sopranistin in Bregenz die Titelrolle. Doch auch ohne das Wissen um diese Koinzidenz und den Alltagsrassismus wäre ihre Darstellung kaum weniger eindringlich gewesen. Angel Blue kann einfach alles: geschliffen klare Linien in der Höhe, volles Volumen in der Mittellage oder rauchige Klangtrübungen; natürliches, ganz unsängerisches Sprechen; Blues-Anklänge mitten in Bergs expressionistischen Phrasen, auf die offenbar auch insgesamt besonderer Wert gelegt wurde und die auch dem restlichen (und durchwegs guten) Ensemble wie selbstverständlich über die Lippen kommen.

Dass das Orchestra of Scottish Opera unter Gerry Cornelius manchmal etwas derb klang, mag zwar nicht unbedingt Absicht gewesen sein, und zuweilen hätte ein wenig mehr Transparenz nicht geschadet. Aber sein harter Tonfall passte letztlich gar nicht so schlecht zu dem Ansinnen, für die Erniedrigten Partei zu ergreifen. Explizit geschieht dies durch Ausschnitte aus Reden von Martin Luther King und aus Gedichten von June Jordan, die zwischendurch eine zweite, nicht minder kraftvolle dramatische Ebene in die von John Fulljames sparsam inszenierte, von Finn Ross mit sinnigen Videos hinterlegte Geschichte einbringen.

(Dass am Samstag bei einem der beiden TV-Bildschirme die Untertitel trotz unübersehbarer Reparaturversuche während der knapp zweistündigen pausenlosen Vorstellung nicht richtig funktionierten, war eine Panne, die eigentlich nicht passieren dürfte.)

Ende aller Illusionen

Weitere Eingriffe der Komponistin in die Originalversion tragen ebenfalls eine deutliche Handschrift: Statt der Gräfin Geschwitz tritt die Blues-Sängerin Eleanor auf (Jacqui Dankworth haucht die Rolle mikrofonverstärkt), die bei Neuwirth einen ähnlichen Missbrauchshintergrund hat wie Lulu selbst.

Und im dritten Akt geht nicht nur die Handlung vollkommen neue Wege, wenn Lulu anstatt von Jack the Ripper von einem unsichtbaren Unbekannten ermordet wird. Auch die Musik stammt nun zur Gänze von Neuwirth, landet sozusagen mit beiden Füßen auf dem Boden und lässt alle ästhetizistischen Illusionen fahren - ein aufrüttelndes Sinnbild für die Qualen der Kreatur. (Daniel Ender, DER STANDARD, 20.8.2013)