Pjotr Silaev ("DJ Stalingrad"): "Es gibt in Russland viele, die sich intuitiv gegen die Regeln des Regimes wehren".

Foto: Matthes und Seitz
Foto: Matthes und Seitz

"Die Sehnsucht sitzt uns im Blut, wir kauen Schmerz, er zieht uns ins Grab." Solche Sätze liest man zuhauf in dem Roman "Exodus", den der Russe Piotr Silaev 2011 unter dem Pseudonym DJ Stalingrad in einer russischen Literaturzeitschrift veröffentlichte. In dem Buch geht es um einen gebildeten Mann am Rande der russischen Großstadtgesellschaft, der sich an seine Jugend erinnert, in der er keinen Gewaltexzess ausließ, auf der Suche nach Heldentum, Werten, Schmerzen und dem Rausch des Moments. Silaev erzählt diesen verstörenden Jugendentwicklungsroman, der einen tiefen Einblick in postsowjetische Realitäten Russlands gibt, in einer rauen, poetischen Sprache.

Der 28-jährige Autor war selbst Teil antifaschistischer Gruppen, die sich in Moskau Straßenschlachten mit Neonazis lieferten. U. a. organisierte er 2010 einen Protest gegen die Abholzung des Wäldchens Chimki bei Moskau, durch das eine Autobahn gebaut werden sollte. Im Zuge des Protests ließ die Staatsanwaltschaft viele Aktivisten verhaften. Silaev floh daraufhin in die EU und erhielt in Finnland politisches Asyl. Russland gelang es, ihn auf eine Interpol-Liste gesuchter Krimineller setzen zu lassen. Daraufhin wurde Silaev 2012 bei einem Aufenthalt in Spanien verhaftet, dann aber wieder freigelassen. Nach internationalen Protesten nahm Interpol Silaev von der Fahndungsliste.

STANDARD:  Seit Sie vor einem Jahr von einer spanischen Antiterroreinheit in einem Hostel verhaftet wurden, weil Sie auf einer Interpol-Fahndungsliste standen, leben Sie in Granada. Wie geht es Ihnen da?

Silaev: Ich arbeite komischerweise als hipper Journalist für prominente Zeitschriften und Webportale in Russland, weil viele meiner Freunde dort als Redakteure angestellt sind. Ich habe Spanischkurse besucht und arbeite an einem Dokumentarfilm, in dem es um den spanischen Stierkampf geht. Eigentlich lebe ich in Finnland, wo ich nach meiner Flucht aus Russland politisches Asyl bekommen habe. Dorthin werde ich auch wieder zurückgehen.

STANDARD:  Sie mussten 2010 aus Russland fliehen, weil Sie einen Protest von Antifaschisten gegen einen geplanten Autobahnbau durch ein Wäldchen bei Moskau mitorganisiert haben. Interpol hat Sie wieder von der Fahndungsliste gestrichen, Moskau nicht. Was würde passieren, wenn Sie nach Hause zurückkehrten?

Silaev: Die Staatsanwaltschaft warf mir vor, eine "bewaffnete Massenunruhe" organisiert zu haben. Meine Verhaftung wurde von einem Moskauer Gericht angeordnet. Diese Anordnung ist noch immer in Kraft. Sobald ich also nach Russland einreise und meinen Pass vorzeige, wird man mich verhaften, und ich lande vor Gericht. Nach dem Strafgesetzbuch erwarten mich bis zu 13 Jahre Haft. Es ist dasselbe Gesetz, das gegen die unschuldigen Demonstranten vom Bolotnaja-Platz in Moskau angewandt wird. Viele von ihnen wurden nach den Protesten gegen Putin im Mai 2012 angeklagt. In meinem Fall wird die Anwaltschaft versuchen, die Maximalstrafe durchzusetzen - mit der Begründung, dass ich eine verfassungswidrige Aktion mit einer extremistischen Organisation geplant habe. Es ist also keine gute Idee, nach Russland zurückzukehren.

STANDARD:  Ihr Buch "Exodus", das 2011 in der russischen Literaturzeitschrift "Snamja" erschien, erzählt von Ereignissen, die Sie zwischen dem 18. und 25. Lebensjahr erlebten. Sie waren Teil einer antifaschistischen Gruppe in Moskau. Wie wurden Sie das?

Silaev: Natürlich geht es um persönliche Ereignisse. Aber es ist auch ein fiktives Werk. Der Erzähler hat Züge von mir. Aber ich bin auch jemand anderer. Den Autor sollte man nicht für einen schizophrenen Wahnsinnigen halten, der seine Komplexe und Neurosen in einem Buch verarbeitet. Auch ich habe meine Komplexe, aber ich würde sie niemals in einen Text packen, der zur Veröffentlichung gedacht ist. Aber es stimmt, dass ich im Alter von 17, 18 Teil einer antifaschistischen Gruppe war und sofort in den Krieg mit Nazis hineingezogen wurde, der damals eskalierte. Dieser Krieg tobte vor allem zwischen 2003 und 2008, als wir Oberhand bekamen und die Naziszene aus den Straßen von Moskau verdrängen konnten. Mit dem Buch wollte ich eher die russische Gesellschaft beschreiben und nicht nur den subkulturellen Krieg zwischen Antifaschisten und Nazis.

STANDARD:  Ist dieser Straßenkampf auch heute noch Realität?

Silaev:  Die Nazibewegung in Russland wird so lange existieren, wie die Autoritäten die politische Existenz dieser Nazis dulden, fördern und für sich nutzen. In ganz Europa haben sich Subkulturen als gutes Sammelbecken von rechten Parteien erwiesen, die diese Nazis für politischen Stimmenfang und Subventionen nutzen. Bei uns, wo Politiker nicht selten sagen, dass wir "eine starke, nationale Jugend als patriotische Antwort auf moderne Herausforderungen brauchen", ist das besonders gefährlich. Gerade jetzt, da das russische Regime einige Probleme hat und sich ziviler Protest breitmacht, hört man wieder solche Sätze, um Nazis für sich zu gewinnen und in den Straßenkrieg ziehen zu lassen. Dort gehen sie dann, geduldet und geschützt von Polizei und Politik, gegen Schwule, Lesben oder Einwanderer vor, was aber in den Medien als "patriotische Rache der russischen Jugend am organisierten Verbrechen ethnischer Gruppen" verkauft wird. Nazigruppen würden gern wieder die Kontrolle über die Straßen von Moskau bekommen. Aber die bewaffneten Antifaschistengangs hindern sie daran.

STANDARD:  Wie wichtig war Ihnen die politische Idee, als Sie in antifaschistischen Gruppen aktiv waren?

Silaev:  Mit der anfänglichen Crew, die nur aus zehn bis 15 Kids bestand, nahmen wir die Nazis als Trainingsobjekt, um stärker zu werden und dann die Straßen von Moskau politisch beeinflussen zu können. So funktioniert das Straßenleben: Du musst bestimmte Gruppen besiegen, dann bekommst du mehr Einfluss. Und dann kannst du mehr Veranstaltungen organisieren, und am Ende hast du eine größere politische Lobby. 2003 beispielsweise wurdest du einfach dafür zusammengeschlagen oder abgestochen, wenn du kein Nazi warst - oder einen politischen Event organisiert hast. Die damals existierende organisierte linke Jugend war friedlich und wurde deswegen ständig verprügelt. Sie wurde in den Untergrund gedrängt und konnte so keine Ziele erreichen.

STANDARD:  Das hat sich dann geändert?

Silaev:  Wir wollten die Situation in Moskau ändern. Je mehr Kämpfe wir gewonnen haben, desto mehr Zulauf bekamen wir. Wir haben Events organisiert, Konzerte, Festivals, Seminare und Workshops. Im Buch gibt es eine Episode, wo ich das erste antifaschistische Musikfestival in Moskau beschreibe. Das war 2007. Den Festivalerlös haben wir an ein Waisenhaus gespendet. Rund um das Festival fanden den ganzen Tag über Schlägereien mit attackierenden Nazigruppen statt. Wir konnten sie zurückschlagen - und sie haben nie wieder versucht, ein Festival von uns offen anzugreifen. Sie haben sich von da an vor allem auf Menschenjagden und kleinere Attacken konzentriert. Dieses Festival war gut für unser Image in der Presse und bei den Bürgern von Moskau. Auf einmal waren wir die Straight Edger (Ausrichtung innerhalb der Punk-Bewegung, die den Verzicht auf Alkohol und Drogen propagiert, Anm.), die sich um obdachlose Teens sorgten und gleichzeitig die Nazis in ihre Schranken wiesen. Von diesem Image zehrt unsere Gruppe heute noch, was uns auch zum Ziel für politische Repressionen macht.

STANDARD:  Gewalt ist scheinbar das, was die Jugendlichen in Ihrem Buch antreibt. Eine Metapher für die russische Gesellschaft?

Silaev:  Die schlimmsten Ereignisse, die ich selbst erlebt habe, habe ich nicht einmal in das Buch aufgenommen. Es geht mir nicht nur um "Gewalt", wie Sie sagen. Man muss verstehen: Gewalt in all seinen Formen ist in Russland ein Überlebensinstrumentarium. Sie ist in allen Schichten vertreten - so, wie man es von einem korrupten Dritte-Welt-Land auch erwartet. Daran ist überhaupt nichts Besonderes. Mit Gewalt beherrscht das Regime die Gesellschaft und verteidigt damit seine Geschäfte. Aber die postsowjetische Gesellschaft ist sehr komplex. Und sie ist gerade für den Westen nicht leicht zu verstehen.

STANDARD: Inwiefern?

Silaev:  Selbst im heutigen Russland können sich solche autokratischen Regime wie das von Wladimir Putin, davon bin ich überzeugt, nicht lange halten. Es gibt viele in der Gesellschaft, die sich an andere Lebensstandards, Freiheiten und bessere Sozialsysteme erinnern und sich unbewusst und intuitiv gegen die Regeln des Regimes wehren und sich auch nicht alles vorschreiben lassen wollen. Es ist durchaus vorstellbar, dass sich diese Menschen zu einer zivilen Miliz zusammentun, um sich gegenseitig zu unterstützen und zu helfen. Wenn ihnen das gelingt, können sie immer mehr Druck auf Regimekollaborateure ausüben und so ihren Einfluss vergrößern. Aber Gewalt allein reicht natürlich nicht aus, um etwas zu verändern. Man braucht hierfür einen administrativen und einen zivilgesellschaftlichen Körper, der von einem mehr verlangt als nur Kampfkünste. Das haben wir ja auch mit unseren Aktivitäten umgesetzt und damit bewiesen, dass man mit Strukturen erfolgreich sein kann. Ich bin diesen Weg der Veränderung ja selbst gegangen. Vom Straßenkampf zum strukturellen Protest und zivilen Ungehorsam. Und fragen Sie mich jetzt nicht, ob wir glauben, dass das etwas in Russland verändern könne. Natürlich glauben wir, dass das alles letzten Endes keinen Sinn hat. Aber wir müssen es zumindest versuchen.       (Ingo Petz, Album, DER STANDARD, 7./8.9.2013)