Nichts versteht sich in Shakespeares Hamlet von selbst. Der Welt berühmtestes Theaterstück steckt voller ärgerlicher Rätsel. "Hamlet ist - nach der Bibel und möglicherweise dem Koran - der meist- und best-kommentierte Text der Welt," schreibt Englischprofessor Anselm Haverkamp in seiner Aufsatzsammlung Hamlet. Hypothek der Macht (2001).

Die Feststellung wäre, für sich genommen, banal. Der Deutsch-Amerikaner (70) hat eine andere Beweisführung im Blick. Der berühmte Dänenprinz ist ein Melancholiker. Sein Gemüt hindert ihn daran, tätig zu werden. Ein Geist im Harnisch ist dem Grübler erschienen, um ihn zur Rache für seine Ermordung anzustacheln. Der Geist ist - wenn es denn wahr ist - derjenige von Hamlets Vater.

Hamlets "Hypothek" besteht in einer Reihe von Zwängen, und Shakespeare hat sie ans Licht der Bühne gezerrt. Die Welt, die die unsere wie in einer Nussschale enthält, ist die des elisabethanischen Theaters. Den Geist, den der mysteriöse Meister aus Stratford beschworen hat, wird das Theater nicht mehr los. Theater macht Geschichte. Es löst die Historie ("history") in lauter einzelne Geschichten ("stories") auf. Zugleich fließt das Geschehen ab, es lässt Charaktere zurück. Diese machen, schreibt Haverkamp, "wie Schriftzeichen, wie Hieroglyphen in Menschengestalt, Geschichte lesbar."

In Shakespeares Hamlet ist es die Lesbarkeit selbst, die auf den Prüfstand gestellt wird. Es gibt objektive wie subjektive Gründe, dem, was die Figuren von sich geben, zu misstrauen. Man kann dem Melancholiker Hamlet fünf Akte lang dabei zusehen, wie er sich - und damit den Auftrag des Vaters - verfehlt. Indem er seine Situation philosophisch befragt, ergreift die Figur des Zweifels von dem ganzen Stück Besitz. Das Trauerspiel wird förmlich daran gehindert, die vom Schicksal vorgesehene Richtung einzuschlagen und eine regelrechte Tragödie zu werden.

Der Behinderungen gibt es derart viele, dass die "Tragödie des Rächers" niemals in Gang kommt. Alle Ausweichbewegungen bilden eine Ereigniskette, die Hamlet an der Selbstverwirklichung hindert. Er ist mithin niemals ganz der, als den ihn das Stück - in seiner Gesamtheit - repräsentiert.

Andere folgenschwere Zumutungen unterminieren den Boden des Spiels. Hamlets Herkunft ist von zweifelhafter Art, ganz gleich, ob er sich das eingestehen will oder nicht. Seine Mutter Gertrude heiratet mit Claudius den Mörder ihres Mannes, der zugleich Hamlets Vater war. Der wahre Skandal rührt an das Unaussprechliche. Gesetzt den Fall, Gertrude hätte ihre Beziehung zu Claudius bereits zu einem Zeitpunkt unterhalten, als Hamlet senior noch lebte ... Der Sohn kann sich somit seines genealogischen Ursprungs nicht mehr sicher sein.

Hamlet müsste, auf Geheiß des "falschen" Vaters, der obendrein ein Gespenst ist, seinen realen Erzeuger umbringen. Schlagartig erhellt sich der Sinn von Gertrudes Versen (3. Akt): "A second time I kill my husband dead / When second husband kisses me in bed."

Die Königin hätte die Linie der Stammesfortschreibung unterbrochen. Grässlich bewahrheitet sich im Licht einer Zweideutigkeit, die alle Sicherheit hinwegnimmt, auch das Nietzsche-Wort zu Hamlet. Danach wäre es "das Allerbeste, nicht geboren zu sein". "Sein oder Nichtsein" lautet in der Tat Hamlets Alternative. Es ist nicht in seine Hand gegeben, die Frage zu entscheiden. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 29.8.2013)