Eine Ausprägung des Lesens und des Schreibens, die dem grundlegend Anderen, Unerprobten Raum gibt: Ruth Klüger, ...

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... Marlene Streeruwitz ...

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... und Barbara Frischmuth.

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Zu den fragwürdigen Segnungen der Globalisierung gehört, dass jede Vorstellung von Unvertrautheit, Fremdheit, Andersheit zusehends schwindet. Wir sind mit allem und jedem verbunden im Ungeist einer gleichgeschalteten Welt. An den aktuellen Trends der Reiseindustrie lässt sich diese Entwicklung gut beobachten.

In Deutschland etwa stehen derzeit luxuriös ausgestattete Wohnmobile hoch im Kurs. Die Eigner dieser Gefährte, die über Himmelbetten, voluminöse Bäder, Satellitenanschluß und Küchen mit Induktionsherd verfügen, nehmen ihr Bild von der Welt in die entfernteste Fremde mit. Was irritieren oder gar verstören könnte, bleibt (...) ausgeschlossen. Der Weltbürger von heute ist überall zuhause, aber nicht, weil er die Welt in der Vielfalt ihres Andersseins kennengelernt hätte, sondern weil er sie gleichsetzt mit der einen Welt, die er kennt.

Welche Konsequenzen eine derart rigide Abschottung zeitigen kann, führt der amerikanische Autor David Foster Wallace in seinem Buch Schrecklich amüsant - aber in Zukunft ohne mich eindringlich vor Augen. Er zielt darin auf einen anderen aktuellen Reisetrend (...). Foster Wallace schildert die Umstände einer 14-tägigen Kreuzfahrt, bei der die Passagiere völlig im eigenen Lebensstil befangen bleiben. Nichts, was sie umgibt, weist spezifische Merkmale auf. Die Ziele, die sie ansteuern, sind austauschbar, denn ihr paradoxes Unterwegssein kreist um einen einzigen Ort: die geruchs- und keimfreie Kabine.

Dass sich unter solchen Bedingungen keine Erfahrungen machen lassen, liegt auf der Hand. Es sollen auch keine gemacht werden: Wer so reist, wird nicht von Neugier und Entdeckerlust angetrieben, sondern vom Bedürfnis, dem Andersartigen, Abweichenden und Unvorhersehbaren (...) so großräumig wie möglich auszuweichen. So ein Bedürfnis kennzeichnet übrigens auch den notorischen Inländer, dem der laute, dunkelhäutige (...) Ausländer ein Dorn im Auge ist, weshalb er sich den Zuwanderer, den Asylanten als geruchs- und keimfreies Abbild seiner selbst wünscht.

Vom genauen Gegenteil dieser Haltung geht Marlene Streeruwitz in ihrer Tübinger Poetikvorlesung aus. Sie wählt als Einstieg in ihre Ausführungen das drastische Bild eines Rituals, bei dem den jungen Männern eines mittelafrikanischen Stammes zur Initiation der Bauch aufgeschnitten wird. "Die Initianten müssen auf ihr und in ihr Inneres in der geöffneten Bauchhöhle blicken. Danach wird der Bauch wieder geschlossen." Marlene Streeruwitz knüpft an die Schilderung dieses Vorgangs ein dichtes Netz poetologischer Überlegungen, von denen hier nur ein bestimmter Gesichtspunkt herausgegriffen werden soll. Sie versteht den Blick in die geöffnete Bauchhöhle als radikale Introspektion, die - anders als die genormte Selbstwahrnehmung der Wohnmobilanten - vom Fremden und Unvertrauten nicht absehen kann. Derlei rückhaltlose Introspektion schmerzt, aber sie wirkt zugleich erkenntnisfördernd. Und wird damit zum Modell für die spezifische Erkenntnisleistung literarischen Lesens und Schreibens.

Schreiben und Lesen seien, "wie alle Prozesse von Sprachfindung", "mögliche Formen des In-sich-Hineinblickens", betont Streeruwitz. Sie seien "Forschungsreisen ins Verborgene. Verhüllte. Mitteilungen über die Geheimnisse und das Verbotene." Sprachen seien sie, "die das Sprechen der Selbstbefragung möglich" machten. Und sie präzisiert mit Blick auf das Lesen: "Wer hat noch nicht, wie vom Blitz getroffen, in ein Buch gestarrt - oder es in die Ecke geschleudert - und, vom Begreifen überfallen, nach Luft gerungen, weil eine Stelle, ein Satz, ja ein Wort in der ganz bestimmten Konfiguration des Textes etwas in ihr oder ihm getroffen hat."

So ein Lesen, verstanden als Erkenntnisschock, entbehrt jeder Beiläufigkeit (...). Es zeugt von Beteiligtheit, ja von Verstrickung, und entfaltet auf diese Weise die Qualität einer vertieften Einsicht, einer existenziellen Erfahrung. In ihrem autobiographischen Buch weiter leben weiß Ruth Klüger von einer derart intensivierten Leseerfahrung zu berichten.

Sie schildert darin ihre Aufenthalte in den Konzentrationslagern Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau und Christianstadt, und wie ihre Mutter eines Tages für die halbwüchsige Tochter, die immer schon gern gelesen hat, ein zerfleddertes Schullesebuch erbettelt. Das Buch enthält u. a. den "Osterspaziergang" aus Goethes Faust (...), doch die 13jährige inhaliert den Text nicht im Bewusstsein seiner kanonischen Geltung, sondern weil sie ihn direkt und unmittelbar auf ihre Situation beziehen kann.

Sie leidet unter Hunger, Durst und Kälte und liest Goethes Zeilen vom Keimen des Frühlings als Hinweis auf das baldige Ende aller Entbehrungen. "Aus dem Frieren kam man überhaupt nicht heraus. Gerade wenn man sich auf seinem Strohsack ein wenig angewärmt hatte, musste man hinaus zum Appell. Da war nun dieses Gedicht, in dem schon der Auftakt Hölle und Gefangenschaft gleichsetzt: ,Vom Eise befreit sind Strom und Bäche.' Man muss Atem holen, um diese erste Zeile zu sagen; ich holte Atem. Eine Stimme, die mich direkt ansprach. Wind eines großen Aufbruchs, einer ausdrücklich nicht religiösen, nicht christlichen Auferstehung ..." Und im Rückblick resümiert Ruth Klüger: "Dass Menschen aus einem hohlen, finsteren Tor, aus einer quetschenden Enge ausbrechen, dass Freiheit und Wärme dasselbe sind, das verstehe ich heute eigentlich nur, weil ich es damals so gut verstanden habe."

Wer sich Texte auf diese Weise aneignet, weist dem Lesen eine subjektive Dringlichkeit zu, die es in die Nähe der Identifikation rückt. Bei der professionellen Leserschaft, der Literaturkritik oder der Literaturwissenschaft, gilt so ein Zugang als verpönt. Ruth Klüger dagegen will nicht wahrhaben, dass das Bedürfnis nach Identifizierung bloß eine "kindliche Vorstufe des reifen, kritischen Lesens" sei, und erkennt in der Betroffenheit eine produktive Energie, die alternative Lesarten zulässt (...). "Denn sogenannte rein ästhetische Kriterien", argumentiert sie, "können auch ein Alibi sein, das einer vorherrschenden Lebensanschauung dient, zum Beispiel der männlichen, indem sie Inhalte, unter dem Deckmantel der künstlerischen Allgemeingültigkeit, einer weiteren Debatte einfach entziehen."

Das Bekenntnis zum Identifikationsprinzip findet sich im Essay Frauen lesen anders, und dieser Kontext macht deutlich, dass es Ruth Klüger nicht um eine unspezifische Betroffenheit zu tun ist, sondern um ein Angesprochenwerden als Frau. "Bücher wirken anders auf Frauen als auf Männer", heißt es zu Beginn des Essays, und das meint zweierlei: dass Frauen bei ihrer Lektüre andere Akzente setzen, aber auch, dass sie andere Bücher lesen wollen. Allerdings zeigt ein Blick in die Kultur-, Literatur- und Mentalitätsgeschichte, dass das andere Lesen und die anderen Bücher vergleichsweise junge Phänomene darstellen. Literarisches Lesen und Schreiben sind über Jahrhunderte männliche Domänen. (...)

Ausgeschlossen bleibt nicht nur das Andere weiblichen Lesens und Schreibens, sondern das Andere schlechthin, der ungelenkte Blick auf die Welt, der sich von ideologischen, kulturellen und gesellschaftlichen Vorgaben zu lösen weiß. Das andere Lesen und Schreiben der Frauen ist eine Möglichkeit, diesem Blick Geltung zu verschaffen. Letztlich versteht es sich aber als Ausprägung eines Lesens und Schreibens, das dem grundlegend Anderen, Unerprobten Raum gibt und auf diese Weise die Blickleere genormter Wahrnehmung transzendiert.

Blickleer ist beispielsweise ein Lesekanon, in dem schreibende Frauen kaum vorkommen. Das heißt nicht, dass es solche nicht gab und gibt, sondern bloß, dass sie unterbelichtet geblieben sind. "Andere" Texte aufzuspüren und kanonisierte Texte "anders" zu lesen wird daher zu einem Anliegen, das darauf abzielt, das vermeintlich Unverrückbare des Kanons in Frage zu stellen.

Barbara Frischmuth etwa sucht in ihrer Münchner Poetikvorlesung die Anknüpfungspunkte für ihr Schreiben in entlegenen literarischen Kontinenten. Sie eignet sich räumlich und zeitlich Entferntes an, die Texte Hildegards von Bingen zum Beispiel oder die der japanischen Hofdame Murasaki Shikibu, um gegen die Verabredungen des Kanons einen Standort zu behaupten. Die Distanz wirkt als Korrektiv des allzu Vertrauten. Umgekehrt erkennt sie in den Texten der brasilianischen Autorin Clarice Lispector (1925-1977) eine provokante, geradezu unverschämte Nähe zum Alltag von Frauen, doch diese Nähe nimmt sich befremdlich aus, weil sie den Rahmen des Literaturfähigen sprengt. Das Vertraute selbst wirkt als Korrektiv, weil es in anderem Licht erscheint.

Einer anderen Beleuchtung bedarf manchmal sogar das eigene Werk. Jedes Schreiben produziert über kurz oder lang seinen eigenen Kanon, inhaltliche oder formale Besonderheiten, die bei der Leserschaft bestimmte Erwartungen wecken. Wer sein Schreiben offen und geschmeidig halten will, muß diese Erwartungen brechen. Auch dafür liefert Barbara Frischmuth ein markantes Beispiel. Ihre "Bildergeschichte" Machtnix oder Der Lauf, den die Welt nahm weist schon durch die ungewöhnliche Gattungsbezeichnung auf den Hybridcharakter des Textes hin. Das Buch weckt Assoziationen zu illustrierten Kinderbüchern und Comicstrips, zitiert Elemente des Märchens, der Tierfabel und der Sciencefiction-Literatur, frönt lustvoll dem Sprachspiel, mischt Ernst und Komik und setzt sich insgesamt zwischen alle denkbaren Stühle, die die Literaturorthodoxie bereithält.

So ein Buch erfordert ein Leseverhalten, das sich neugierig und unvoreingenommen auf den wilden Mix der Genres einläßt. Es (...) muß sich hinauswagen in unvertrautes Gelände. Lesen in diesem Sinn ist ein unabschließbarer Prozeß: es gibt dafür keine Matrix. Wer sich ernsthaft einläßt auf diesen Prozess, zeugt lesend ein anderes Lesen, das in letzter Konsequenz immer ein Lesen des Anderen, Abseitigen, Unerhörten ist. Und dabei gilt: der Blick ins Innere der Bauchhöhe muß nicht immer schmerzhaft sein. Er kann zuweilen auch die Atemlosigkeit des Glücks bewirken.     (Gerhard Melzer, Album, DER STANDARD, 14./15.9.2013)