Verdientermaßen auf der Shortlist: Terézia Mora.

Foto: Peter von Felbert

Wer Terézia Moras Roman Der einzige Mann auf dem Kontinent kennt, hat bei der Lektüre ihres neuen Romans Das Ungeheuer ein Déjà-vu-Erlebnis. Denn er beginnt mit der gleichen Szene: Eine nackte Frau beugt sich über den schlafenden Antihelden Darius Kopp, einen korpulenten Mann, 106 Kilo schwer, 178 cm groß.

Doch bald wird klar, dass zwischen den Handlungszeiträumen der beiden Bücher viel passiert ist und die Autorin ihren früheren Roman nicht neu, sondern fortschreibt. Man gewinnt ohnehin den Eindruck, dass Mora seit ihrem Debütroman Alle Tage (2004) an einem Werk arbeitet, das als vielstimmige und melancholische Hommage an Menschen gelesen werden kann, die nicht zu den erfolgreichen Gewinnern unserer Gesellschaft zählen, sondern den Geruch des Fremden in ihren Taschen tragen. Der IT-Experte Kopp hat wieder einmal seinen Job verloren. Seine Frau Flora Meier, eine gebürtige Ungarin und die "Liebe seines Lebens", ist tot, das Bild ist nur mehr ein Traum, eine Erinnerung.

Flora versuchte sich in mindestens zwei verschiedenen Jobs pro Jahr, die immer wieder mit körperlichen und seelischen Zusammenbrüchen beendet wurden. Schließlich kann sie in der Stadt nicht mehr leben und hat zuletzt "aus diesem verdammten Wald nicht mehr herausgefunden". Darius Kopp verlässt nach Floras Selbstmord mehrere Monate seine Berliner Wohnung nicht mehr, lebt von bestellten Pizzas, Alkohol und Kaffee und vertreibt sich die Zeit mit Fernsehen und Internet. Doch eines Tages zwingt ihn sein Freund Juri aus seiner Einsamkeit, holt ihn in die eigene Wohnung und arrangiert ein Vorstellungsgespräch für ihn. Aber Darius Kopp verweigert sich und fragt sich: "Wohin kannst du gehen, wenn statt eines Ortes eine Person dein Zuhause geworden ist?" Nach dem Verlust seines Zuhauses begibt er sich mit seinem Auto auf eine Trauerreise und hofft, einen Ort zu finden, an dem er die Asche seiner Frau beisetzen kann.

In seinem Roadmovie gerät der Protagonist an ihm mehr oder weniger wohlgesonnene Zeitgenossen, muss einige Abenteuer bestehen und Flora recht geben: "Die Welt ist ein seltsamer Ort." Darius Kopp reist nicht nur in die Ferne, sondern auch zurück in die Vergangenheit mit Flora, mit der er neun Jahre seines Lebens verbracht hat und die ihm trotz ihrer Nähe fremd blieb - immer wieder verschneiden sich die Ebenen der Fortbewegung und Erinnerung. Zunächst sucht er Floras Spuren in Budapest, findet ihr Heimatdorf, fährt weiter nach Veli Losinj, wo er als Kind aus der DDR seine Ferien in einem Kurheim verbracht hat. Als er dort zufällig in einer Bar auf seinen Vater trifft, wird er, mehr als ihm lieb ist, mit seiner eigenen Geschichte konfrontiert und verlässt fluchtartig die Insel. Weiter geht es über Tirana, wo er eine Woche lang nach einem Zeckenbiss im Delirium liegt, und Bulgarien bis nach Georgien und Armenien, dann über Istanbul zurück nach Athen, wo seine Reise unvorhersehbar endet.

Moras Sprache ist ebenso nüchtern wie sinnlich. Sie erzählt nicht linear und liebt scharfe Schnitte. Ein Geschehen wird aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet und bleibt mehrdeutig, Komik und Ironie haben ebenso Platz wie Kommentare der Erzählerin, Anspielungen und (Selbst-)Zitate. So beschreibt sie beispielsweise die erste Begegnung von Darius und Flora dreimal, im Roman Der einzige Mann auf dem Kontinent und in Das Ungeheuer aus seiner und ihrer Sicht.

Auf diese Vielstimmigkeit verweist auch die ungewöhnliche typografische Seitengestaltung des Buches. Die Seiten sind in etwas mehr als der Hälfte durch eine Linie getrennt: Der obere Teil enthält die Liebesgeschichte aus der Perspektive von Darius Kopp, der untere Teil bleibt zum Teil leer, zum Teil enthält er vier lange Kapitel mit Texten aus dem Laptop von Flora, die Kopp von einer Studentin aus dem Ungarischen übersetzen ließ, die ihrerseits die Chronologie durchbrechen und Kopps Erinnerungen kontrastieren und ergänzen. Es sind heterogene Fragmente einer Krankengeschichte, vom Aphorismus bis zur Lyrik, von der wissenschaftlichen Diagnose ("bipolare affektive Psychose. Früher manisch-depressive Störung genannt") bis zu Träumen und tagebuchartigen Reflexionen des "Niemandskinds", dessen Zuhause "in den Gleisen am Rande des Dorfs" lag und das sich dennoch immer wieder darum bemühte, "glücklich zu sein" und gesellschaftliche Anforderungen zu erfüllen. Darius Kopp fragt sich bei der Lektüre der poetischen Bruchstücke, warum er nichts von den Demütigungen, Krisen, Selbstmordversuchen wusste, aber er liest auch dies: "Jemanden zu lieben ist ein hinreichender Grund, seine Existenz als sinnvoll zu empfinden."

Der Roman Das Ungeheuer - so bezeichnet Flora selbst ihre Krankheit - zählt sicher zu den beeindruckendsten und anrührendsten Büchern in diesem Herbst, der verdientermaßen auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises steht. Terézia Mora hat in der Figur des Darius Kopp eine moderne Version des Orpheus geschaffen, der auf der Trauerreise seiner Eurydike so nahe wie möglich kommt und trotz der Unzumutbarkeiten der Wirklichkeit überleben will. Und sie erzählt davon, dass die Rettung eines Menschen durch Liebe unmöglich ist, wenn dieser "still und maßvoll" im Waldhaus in einer anderen Welt leben will und Sätze wie diesen schreibt: "Man kann aufhören zu existieren, ohne tot zu sein."      (Christa Gürtler, Album, DER STANDARD, 28./29.9.2013)