Wer angesichts des nahenden Winters schon leicht unrund wird, dem sei Roman Ehrlichs Erstlingswerk Das kalte Jahr in die unterkühlten Hände geklemmt, auf dass ihn die Erkenntnis ereile: Es könnte weitaus schlimmer sein. So brach 1815 der indonesische Vulkan Tambora mit solcher Wucht aus, dass die emporgeschleuderte Asche die Erdatmosphäre verdunkelte und der nördlichen Hemisphäre ein Jahr ohne Sommer bescherte, für das es keine Erklärung zu geben schien.

Auch der möglicherweise endlose Winter in Ehrlichs Roman ist ein Rätsel. Doch machen sich weder der namenlose Icherzähler noch die wenigen übrigen Protagonisten große Gedanken darüber. Sie nehmen das ewige Schneegestöber - wie vieles andere auch - schicksalsergeben hin.

Ehrlich, Jg. 1983, Absolvent des Deutschen Literaturinstituts Leipzig und mit einem Auszug aus Das kalte Jahr Teilnehmer des diesjährigen Bachmann-Preises, schickt seinen Protagonisten auf einen symbolisch aufgeladenen Heimaturlaub. Einer Intuition folgend entflieht er seinem Büroalltag, um zu Fuß dem zwei Tagesmärsche entfernten Elternhaus einen Besuch abzustatten. Am Ziel angekommen, findet er dort anstelle seiner Eltern einen jungen Buben namens Richard vor, welcher das Haus allein bewohnt, den Erzähler jedoch auf dem Sofa Quartier beziehen lasst. Einer Traumlogik folgend, die das Unheimliche wie selbstverständlich ins Vertraute eindringen lässt, wird die Abwesenheit der Eltern hingenommen.

Während Richard im ehemaligen Kinderzimmer des Erzählers an einer mysteriösen Apparatur bastelt, übernimmt jener wie selbstverständlich elterliche Pflichten der Haushaltsführung und beginnt bei einem Elektrohändler zu arbeiten. Seine Haupttätigkeit besteht darin, einen Querschnitt des aufgrund des Wetters nur mehr schlecht empfangbaren Fernsehprogramms auf Video zu bannen.

Diese präzise, aber auch etwas manierierte Schauergeschichte durchwirkt Ehrlich mit historischen Exkursen, Berichten aus der Vergangenheit einer gefährdeten Zivilisation, die der Erzähler Richard beim gemeinsamen Abendessen auftischt. Er erzählt vom Vulkan Tambora, zumeist aber aus der Geschichte Chicagos und von dort wirkenden deutschen Immigranten, vom Selbstmord des Anarchisten Louis Link und vom Architekten Dankmar Adler. Ehrlich tritt in die Fußstapfen Alexander Kluges oder W. G. Sebalds, indem er diese Sammlung eines Kollektivgedächtnisses von Kampf, Zerstörung und Wiederaufbau mit eingefügten Fotos anreichert, die das Erzählte zugleich belegen und in Zweifel ziehen lassen.

Wie die vordergründige Handlung des Romans jedoch zu keiner befriedigenden Auflösung findet, so entziehen sich auch diese Passagen einer verbindlichen sinnstiftenden Deutung. Das kalte Jahr erscheint so als streckenweise durchaus anregende Stilübung, die zwar Respekt abnötigt, durch ihr kühles Verharren im Somnambulen jedoch nur schwer das Herz zu wärmen vermag. (Dorian Waller, Album, DER STANDARD, 12./13.10.2013)