Hat einen im wahren Sinn gut durchbluteten, von Mari Otberg verschmitzt illustrierten Roman geschrieben: Michael Stavarič.

Foto: Marko Lipus

"Wenn man geboren wird, dann ist das so, als würde jemand eine Zeitung aufschlagen, in der nichts gedruckt steht" - "man blättert sich durch eine (wohltuende) Leere und hofft das Beste." So beginnt die Geschichte der Wienerin Rosi Schmieg, doch Michael Stavarič räumt flugs auf mit der Leere und setzt eine nicht minder wohltuende Fülle dagegen. Königreich der Schatten ist ein gar nicht schattenhaftes, ein überaus buntes Bilderbuch, metaphorisch und buchstäblich: Mari Otberg hat die gut durchblutete Geschichte verschmitzt schwarz-weiß illustriert. Ganz nach dem Erfolgsrezept der, jedenfalls von Erwachsenen, viel gelobten Kinderbücher des Autors.

In dieser Geschichte schickt Stavarič zwei Menschen auf die Reise, eine Frau und einen Mann, die sich in einem großen Bogen aufeinander zubewegen und einander schließlich in Leipzig treffen, wenn auch anders als gedacht: Rosi Schmieg aus Wien und Danny Loket aus New York verbindet nicht nur eine innige Liebe zum Fleischerberuf, sondern auch - wovon sie aber nichts ahnen - ihre Familiengeschichte. Im Zweiten Weltkrieg fiel Großvater Schmieg, ein Fleischhacker, durch die Hand seines nach Amerika geflüchteten böhmischen Zunftgenossen Frantisek Loket alias Frank Elbows, Dannys Großvater.

Danny und Rosi erzählen abwechselnd in der ersten Person, der Epilog betrachtet sie von außen. Rosi Schmieg, die vaterlos aufwächst, teilt mit ihrer Mutter die Liebe zum tierischen Eiweiß. Im Fleischhauermeister Schlingel, dem Kriegskameraden des alten Schmieg, erwächst ihr ein großväterlicher Freund, der sich, auf nicht ganz eindeutige Weise, auch der Mutter annimmt. Sie ist es, die an der Weltsicht der Kriegsgeneration - die Herren war schon irgendwie Nazis, aber doch wackere Burschen - mit eherner Treue festhält.

Die Lebensweg-Abzweigung nach Leipzig führt Rosi auf die dortige "Internationale Fleischereifachmesse", was Stavarič Gelegenheit gibt, eine lustvoll ausgemalte Parodie der Buchmesse in Szene zu setzen. Rund um das "blutrote" Interviewsofa werden die Schlachtmethoden fremder Völker vorgeführt, wird eine künstlerische "Anbetung des Fleisches" ebenso veranstaltet wie die Wahl der "Miss Fleisch" und des "Fleischers des Jahres".

Rosi kostet von einem Produkt, "das von Tieren stammte, die ein Leben lang nur Rotwein zu trinken bekommen hatten": der "Flamingo-Effekt" sorgt für köstlichen Geschmack. Und Rosi lernt Herrn Schlitz kennen, der eine Nachfolgerin für seine Fleischerei sucht und das Mädchen in der Kunst des Tötens unterweist.

Leipzig ist wohl ein gutes Pflaster für das Schlachterhandwerk. In der Nähe spielt Patrick Hofmanns sachkundiger Debütroman Die letzte Sau (2009), in dem eine schöne Schlachterin mit der DDR auch das letzte Schwein der Familie Schlegel abwickelt. Das Bild der Fleischhaueramazone, die blutige Hacke in der Hand des schwachen Geschlechts, fasziniert sichtlich auch Michael Stavarič. Rosi und die starken Schlingel-Töchter sind mythische Gestalten und haben doch ihre Pendants in der Wirklichkeit - zum Beispiel die patenten Frauen der famosen Fleischhauerei Schwind im Mürztal, Schmieg, Schlitz, Schlegel, Schlingel, Schwind. Stabreimen ist ansteckend.

Stavarič serviert einen deftigen Bauernschmaus, fein garniert à l' avantgarde, mit alten Briefen und mit Listen, zum Beispiel einer der 50 glücklichen Momente aus Rosis Kindheit, darunter die erste Begegnung mit einem frischen Schweineherzen und der Erwerb eines Fleischwolfs, der die neue Wohnung "wohnlicher" macht. Der gebürtige Brünner schreibt die Tradition des Skurrilen von Karel Capek bis Bohumil Hrabal fort, spielerisch, hochmusikalisch (allein die Musik der geborgten tschechischen Wörter!) und komisch. Etwa Rosis Versuch, den Bildschirmfernkurs zum Thema "Mysterium Blutwurst" zu verfolgen, während die Zeugen Jehovas um ihre Seele ringen.

Königreich der Schatten ist ein ironisches Lob des goldenen Handwerks in Zeiten der Industrieernährung und eine Provokation für Vegetarier. Der Roman wirkt in seiner Mikrostruktur: In den Details der Geschichten und Geschichtchen, teils Wikipedia-Wissen, teils bizarre Erfindung, zeigt sich der Reichtum der Welt.

Irgendwie wächst die resche Rosi ("Flamingos gefielen mir, weil sie mutig genug waren, Rosa zu tragen") dem Leser mehr ans Herz als ihr amerikanisches Pendant Danny.

Dessen Welt gerät nach und nach aus den Fugen, was seine Abreise nach Deutschland beschleunigt: Die Zootiere reißen aus und fressen Passanten, die Vögel verschwinden vom Himmel, ein steinerner Koloss fällt auf die Erde.

Wenn das keine Apokalypse ist! "Empire of Death" hieß die Geschäft des Großvaters im New Yorker Meatpacking District, und man kann mutmaßen, dass der Verlag lieber die Schatten als den Tod im Romantitel haben wollte.

Ob Weltkrieg oder Atomverseuchung, bei Stavarič wird alles zum bösen Märchen. Teil II wirkt wie eine groteske Illustration der Verse Ingeborg Bachmanns: "Der Krieg wird nicht mehr erklärt, / sondern fortgesetzt. Das Unerhörte / ist alltäglich geworden." Die Endzeitfantasien geraten ein bisschen zu üppig, doch beim Konzept des gemischten Aufschnitts ist Stringenz kaum einklagbar. (Daniela Strigl, Album, DER STANDARD, 19.10.2013)