Als Chronist taugt der polnische Absurde Witold Gombrowicz (1904-1969) wenig. Seine Tagebücher (Kronos) liest man nicht deshalb, weil man durch sie besonders genaue Kenntnisse über die Welt von vor 50 Jahren erhielte. Die Ursachen für diesen Mangel sind persönlicher oder vielleicht sogar intimer Natur. Ihm, Gombrowicz, verdankt die moderne Erzählkunst die Erschließung der Narretei als höchste Erkenntnisform.

Gombrowicz ist Ethiker. Er zeigt, wie weit man gehen muss. Mit Blick auf seine Romane Ferdydurke (1938) oder Pornographie (1960) kann man sagen, er sei weiter gegangen als alle anderen vor und nach ihm. Dieser Autor schneidet Grimassen. Durch die Verrenkung der Gesichtszüge will er die Welt dazu reizen, es ihm gleichzutun. Und wirklich, wie vorhergesehen, gerät die Überrumpelte außer Rand und Band.

Gombrowicz, der 34 Jahre lang im argentinischen Exil lebte, bricht im April 1963 nach Europa auf. Die Ford Foundation hat den damals bereits weltbekannten Exilpolen nach Westberlin eingeladen. Er führt zu diesem Zeitpunkt seit vielen Jahren ein Journal (Tagebuch 1953-1969). Und natürlich kennen diese Aufzeichnungen in Wahrheit nur ein Thema: Gombrowicz selbst.

Die beschwerliche Schiffspassage ist der erste, spektakuläre Teil seiner Berliner Notizen, die soeben in prachtvoller Übersetzung durch Olaf Kühl neu herausgegeben worden sind. Die Art, in der Gombrowicz denkt, ist herausfordernd. Der Pole ermittelt nicht. Er sammelt keine Beweisstücke, die er vorlegt, etwa um einen anspruchsvollen Gedankengang zu stützen. Gombrowicz, der notorische Einzelgänger, zettelt Aufstände an. Die Berliner Notizen bilden ein Fahrtenbuch. Die Einträge dienen der Selbstvergewisserung: Mich, Gombrowicz, gibt es noch. Ich kehre zurück nach Europa. Unter meinem Blick gibt der vom Krieg verwüstete Kontinent klein bei.

Europa bleibt auch gar nichts anderes übrig. Auf dem Deck des Atlantikschiffes hatte der Dichter ein herrenloses Auge herumrollen gesehen. Es gibt zu viele Augen. Niemand meldet sich, dem sie gehören könnten. Gombrowicz nennt Argentinien seine große Liebe - jetzt, wo er von der "Pampa" Abschied genommen hat. Sein erster längerer Aufenthalt ist in Paris. Er kürt sich die Stadt zum Feind. Er wirft den Parisern die Überfeinerung vor. Proust ist ihm ein Haubenkoch, der, um der Erhöhung des Genusses willen, einen Truthahn sinnbildlich mit einer dünnen Nadel tötet. Gombrowicz spricht sich für den Existenzialismus aus ("Sartre, nicht Proust!"). Es hilft alles nichts.

Der Entwurzelte fasst auf dem Alten Kontinent nicht mehr Fuß. Seine Fahrt nach Paris und Berlin ist ein erschütterndes Gleiten hinüber in den Tod.

Den jungen Berlinern blickt er auf die reinen, unschuldigen Hände. Er anerkennt die Tüchtigkeit dieser Hände, die nach Wohlstand streben. Einen Goethe, Hegel oder Beethoven kann Gombrowicz nirgends finden. Er riecht im Tiergarten das Aroma von Gras, Rinde, Steinen. Ihm kommt die polnische Heimat in den Sinn. Jetzt weiß Gombrowicz, dass er bald sterben wird. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 1.8.2013)