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Von "Poker Face" kann man hier nicht mehr sprechen: Lady Gaga als Michael Jackson als Untoter mit Gruftkaries letztes Wochenende bei den Youtube-Video-Awards in New York.

Foto: REUTERS/Andrew Kelly

Wien - Im Kernland ihres geschäftlichen Erfolgs hat sie ihre alte Wirkungsmacht wohl schon verloren. Als vor Wochen Applause, eine erste Vorabsingle des dieser Tage erscheinenden neuen Albums Artpop angekündigt wurde, hielten sich in den USA die Vorbestellungen in Grenzen. Im Gegensatz zum letzten Welthit Born This Way scheiterte das nette Synchrontanzlied Applause in geradezu erschreckender Weise.

Wo bei den Kids und ihren Download-Vorlieben eigentlich die 27-jährige Lady Gaga auch noch fünf Jahre nach ihrem weltweiten Durchbruch mit Poker Face auf die Nummer eins hätte gehen sollen, kämpften um diesen Platz längst andere, jüngere Kolleginnen wie Miley Cyrus oder Lorde. Selbst der quietschbunte, abwaschbare und reichlich uninteressante Unterhaltungsact namens Katy Perry ist mittlerweile erfolgreicher als Lady Gaga.

Das mag vor allem auch daran liegen, dass es das amerikanische Publikum nicht allzu lang gern hat, wenn es dauernd mit Querverweisen, doppelten Böden, Ironie und Metaebenen bombardiert wird. Amerika und das "Amerika" , das die ganze Welt eingetrichtert bekommt, lieben letztendlich die "Ehrlichkeit" - und sei sie noch so pathetisch aufgeladen und aufgesetzt wie im Werk der rockenden US-Hausgötter Bruce Springsteen und Bon Jovi.

Bei aller Kritik, die man Lady Gagas böllernder Eurotrash-Disco mit Neandertaler-Rockeinschüben, ein wenig modernistischem R'n'B sowie sehr viel vom ganzen Rest zwischen Autodromgedröhne, Kommerz-House und Hyper-Hyper-Techno entgegenbringen kann - all dies kann man nun übrigens auch wieder auf Artpop über sich ergehen lassen:

Wie hier eine ehemalige Studentin der Kunstgeschichte von New York aus mit einem ganzen Heer an Beratern ebendiese Kunsthistorie innerhalb weniger Jahre durchforstete und mit referenzlastigen Outfits in die Weltöffentlichkeit zerrte, das ist schon eine Leistung an sich.

Weißclown und Burka

Die junge Zielgruppe lernte so nicht nur die Möglichkeit kennen, aus Schweinekoteletts Abendroben herzustellen. Es wurde zwischen Pierrot, dem Weißclown, Herrin aus der strengen Kammer, Burka-Schick, mittelalterlichen Schandmasken und einer Sichtung der Karriere des großen Vorbilds Madonna im Schnelldurchlauf auch mit jeder Menge angerissenen Inhalten konfrontiert, die aus den lose vernähten Verpackungen purzelten. Die Facebook-Seite Gaga Stigmata - Critical Writings & Art About Lady Gaga erweist sich in diesem Zusammenhang mit ihren Essays junger wagemutiger Akademiker als Cultural-Studies-Goldgrube.

Vor allem ging es Lady Gaga oder der Person, die sich hinter dieser versteckt, immer auch um Selbstermächtigung, Selbstbestimmung und die Infragestellung gängiger Geschlechtervorstellungen. Sei, wer du sein willst.

Man traut es sich ja fast nicht mehr zu sagen: Diese Aussage hat heute fast schon wieder etwas Aufrührerisches. Trotz aller Versprechungen der westlichen Gesellschaften, immer freier und toleranter zu werden, geht der Sack wieder zu.

Gegenwärtig verlagert Lady Gaga ihren Arbeitsschwerpunkt für die Promotion ihres neuen Album Artpop auf das gute alte Europa. In Sachen Querverweise hat sie das Betriebstempo weiter erhöht. Das Artwork des Albums hat Kunstsuperstar und Oberflächenspezialist Jeff Koons geschaffen, ein Meister der Politur. Wer ordentlich poliert, kann im verhandelten Gegenstand sein Spiegelbild erkennen. Im Lied Applause heißt es: "One second I'm Koons, then suddenly Koons is me / Pop culture was in art, now art's in Pop culture with me."

Andererseits hat sich Lady Gaga mit Marina Abramovic, dem Weltstar der Performancekunst verbündet, deren radikaler Ansatz der Selbsterforschung im Spiegel der Gesellschaft nun nicht nur schnell, schnell in Gagas Werk einfließen soll. Lady Gaga betreibt auch massives Crowd-Funding für die Künstlerin und deren im Staat New York geplantes "Interdisciplinary Performance and Education Center".

"I'm not a wandering slave, I am a woman of choice", böllert es auf Artpop im technoid-stampfenden Song Aura. Wen genau sich Lady Gaga dafür ausgesucht hat, werden wir erfahren. Falls es uns interessiert: "Dance, Sex, Artpop." (Christian Schachinger, DER STANDARD, 5.11.2013)