Hier hat er es gefunden. Erik Eberhard steht im Halbdunkel der Höhle, von deren Decke winzige Tropfsteine wachsen. Er trägt hohe Ledergamaschen und ein schwarzweiß gemustertes Barett, aus dem rötliche Locken auf ein rotes Gesicht fallen. "Ich war lange nicht mehr hier", sagt er, sein Blick bleibt an einer Felswand hängen. Dort hat sich sein Ururgroßvater Hermann Eberhard 1895 fotografieren lassen, mit drei weiteren Männern. Es war der Tag, an dem er ein seltsames Fell mit Haut- und Knochenresten entdeckte. Wie sich herausstellte, waren es die Überreste eines Mylodons, eines pflanzenfressenden Riesenfaultiers mit dem Gewicht eines Elefanten, das seit 10.000 Jahren ausgestorben ist.
"Ein alter Freund der Familie", scherzt Erik, als er an der schlecht gemachten Mylodon-Nachbildung am Eingang der Höhle vorbeigeht. Es zeigt ein Wesen mit Pferdemaul und Stieraugen, das auf den Hinterbeinen steht und Faultierklauen von sich streckt - jahrelang war es die einzige Attraktion des Ortes. Heute ist die Cueva del Milodón im chilenischen Teil Patagoniens ein Naturdenkmal, es gibt ein Besucherzentrum, ein Restaurant, und gerade wurden neue Rundwege eröffnet. "Als Kinder haben wir diesen Ort geliebt", sagt er und stapft zu dem Zaun, der das Land seiner Familie eingrenzt.
Erik und seine Gäste binden die Pferde los, reiten zurück nach Puerto Consuelo. Eine Weile folgen sie dem Zaun, der ins Endlose zu führen scheint, spüren den kalten Wind im Gesicht und die milde Nachmittagssonne, die Hufe der Pferde versinken im morastigen Boden, bald glänzt ihr Fell vor Anstrengung. Es ist eine eigenartige Landschaft, silbergraue abgestorbene Baumstämme ragen aus flachem Bewuchs hervor, graugrüne Flechten haben an ihnen die Blätter ersetzt, sie wehen im Wind wie lange Bärte. Wolken ziehen wie Schiffe über den Himmel, werfen flüchtige Schatten auf die Welt. Am Fuße einer Anhöhe satteln die Reiter ab.
Zigarettenpause für Erik, er schaut über das Land, bis zu den fernen Spitzen des Nationalparks Torres del Paine. "Der Bergrücken dort drüben heißt Dorothea, mein Ururgroßvater hat ihn nach seiner Tochter benannt", sagt er und presst den letzten Rauch seiner Zigarette durch den Mundwinkel. Hermann Eberhard gilt als einer der Entdecker Westpatagoniens: 1853 in Schlesien geboren, wurde er mit 16 Jahren Matrose und mit 26 Schiffskapitän der deutschen Handelsmarine. 1893 ließ er sich in Puerto Consuelo nieder und gründete die erste Siedlung in der Region.
Gefolgt von langen Schatten reiten wir in Puerto Consuelo ein, im Fjord kräuselt sich das Meer, Schwarzhalsschwäne schwimmen dicht gedrängt, dahinter liegen die Berge mit dem Schnee des letzten Winters. Es sind die südlichen Ausläufer der Anden, Puerto Consuelo liegt östlich von ihnen, nur wenige Kilometer nördlich der Hafenstadt Puerto Natales nahe der Grenze zu Argentinien.
Gatter ins Nirgendwo
Wer in Punta Arenas im Süden ankommt, fährt kilometerweit durch flaches Land mit kargen Weiden, auf denen hier ein paar graue Schafe stehen, dort eine Herde langhalsiger Guanakos oder ein straußenähnlicher Ñandu mit zerfleddertem Federkleid. Es kommt vor, dass man im Vorbeifahren das Meer nicht vom Land zu unterscheiden vermag - das aufgewühlte braune Wasser der Magellanstraße vom wild verwehten Gras der Pampa. Hält man an, drückt der Wind so stark gegen die Autotür, als wolle er verhindern, dass man aussteigt. Gatter führen ins Nirgendwo, bunte Blechhäuschen hocken neben windschiefen Bäumen, wo Menschen auf Post hoffen. Estancia El Morro, Estancia Santa Irene, Estancia Jimmy, ihre Briefkästen sind Miniaturmodelle der Anwesen, zu denen lange Alleen führen. Dann irgendwann sieht man ein Schild: "Willkommen in der Provinz der Letzten Hoffnung".
Wer hier unterwegs ist, will Weite sehen und Wetter spüren, zu den Granitspitzen im Nationalpark Torres del Paine wandern oder die kalbenden Gletscher im nahen Argentinien besuchen. Doch es lohnt sich, auch die Menschen zu treffen, die mit dieser Natur leben und aus Einwandererfamilien stammen. Viele von ihnen sind hergekommen, um Schafe zu züchten, doch seit die Wolle nicht mehr genügend Ertrag bringt, suchen sie nach neuen Einkommensquellen, einige empfangen Touristen.
Etwa die Estancia Mercedes auf der Halbinsel Antonio Varas, mehrere Holzhäuser mit roten Dächern, die direkt am Meer stehen, rund 20 Kilometer von Puerto Natales entfernt. Erst seit ein paar Jahren führt überhaupt eine Straße hierher, vorher konnte man das Gut nur per Pferd oder Boot erreichen, weiter westlich liegen nur noch unbewohnte Inseln. Seit vier Generationen lebt Familie García Iglesias hier, seit José Iglesias Díaz aus Asturien übersiedelte und 1916 mit der beschwerlichen Schafzucht auf dem sumpfigen Land begann. Statt der damals bis zu 5000 Schafe gibt es heute nur noch 250 Kühe, um die sich ein Gaucho kümmert, und seit gut einem Jahr ein touristisches Familienunternehmen.
Sohn Sebastián hat Landwirtschaft und Tourismus studiert, seine Stoffhose steckt in hohen Reitstiefeln, in seinem Gürtel ein spitzes Messer mit grober Lederscheide. Er schwingt sich in den Sattel, reitet voran, durch Bäche, galoppiert über einsame von Treibholz gesäumte Strände am Ende der Welt. Gaucho Don José begleitet ihn, eine kleine gemütliche Kugel, die pfeifend im Sattel schaukelt, dann plötzlich behände durchs Unterholz prescht, seinen fünf bellenden Hunden folgend, die eine entlaufene Kuh aufgespürt haben. Früher ist er mit allem Hab und Gut von Landgut zu Landgut gezogen, hat sich um Rinderherden gekümmert, seit 20 Jahren arbeitet er auf der Varas-Halbinsel, wohnt allein in einem kleinen Holzhaus neben der Familie.
Ein Ort zum Teilen
Am Nachmittag sitzt Don José mit der Familie García Iglesias am Küchentisch, auf dem eine Wachstischdecke mit Pferdemuster liegt, an der Wand hängen Flinte, Hufeisen, Steigbügel und polierte Kuhhörner. Hausherr Hernán serviert selbstgeräucherten Lachs, seine Frau María Angélica einen schweren Rindereintopf mit Backkartoffeln und Räucherchili. "Unser Vorfahren haben viele Opfer gebracht, um sich hier eine Existenz aufzubauen", sagt sie. "Deshalb lieben wir diesen Ort, und wir wollen ihn teilen." Sebastián erzählt von seinen Ideen, sich hier draußen selbst zu versorgen, sie züchten Kompostwürmer, seine Schwester María hegt Gemüsebeete im Gewächshaus. Hernán pafft an seiner Pfeife, lädt auf einen weiteren Rotwein ein, sie wollen einen nicht gehen lassen, aber die letzte Fähre setzt bald über.
In Puerto Consuelo hat der Argentinier Don Luís ein Lamm aufs Kreuz gebunden, hat es mit Draht festgezwirbelt und schräg über dem Feuer aufgestellt, damit die Flammen danach züngeln. "Das Wichtigste für den Geschmack ist der Rauch", sagt er und legt dicke Holzscheite nach, seine schwarze Hose steckt in schweren schwarzen Lederstiefeln. Der Mann mit lachendem Blick kommt schon seit Jahrzehnten auf Estancias in Chile und Argentinien, um Lämmer zu schlachten und sie auch gleich zuzubereiten. "Es gibt die Grenze, aber sie bedeutet nichts, für uns ist Patagonien eins, wir sind eine Familie." Er wetzt sein Messer, gleich kommt eine Touristengruppe mit dem Ausflugsschiff vom Balmaceda-Gletscher, der nördlich von Puerto Consuelo im Meerbusen der Letzten Hoffnung liegt. Don Luís wird ihnen eine Riesenportionen Lamm mit Salat, Brot und Wein servieren, bevor sie mit roten Bäckchen zurückkehren in ihre Hotels in Puerto Natales.
Kühe und Kajaks
Auch Puerto Consuelo war früher eine große Schaffarm mit 12.000 Schafen, die jedes Jahr im Dezember wochenlang geschoren wurden, ihre Wolle wurde in Ballen zu 200 Kilo verkauft. Dann sank der Wollpreis. Seither sind Moose auf den alten Gattern zum Scherschuppen gewachsen, es gibt nur noch ein paar Schafe, dafür aber 600 Kühe, um die sich Eriks Vater Rodolfo Eberhard mit einem Gaucho kümmert. Und die Touristen. Erik hat Pferde und Reitausrüstung angeschafft, Kajaks und Mountainbikes und will bald eine Pension eröffnen und ein kleines Schafschur-Museum im alten Scherschuppen. "Die ältere Generation auf den Estancias wollte unter sich bleiben, aber die jungen Leute sehen den Tourismus als Möglichkeit, die Landwirtschaft zu ergänzen", sagt Erik. Er lehnt am Kamin und raucht, in seinen Augen funkelt die Liebe zu diesem Ort, zur Ferne des Horizonts, zur Ungewissheit der Natur und zu den Menschen, die gerade deshalb so herzlich seien. "Die Chilenen sagen, wir seien hier alle ein bisschen verrückt, aber wenn du den ganzen Tag den Wind und die Sonne im Gesicht hast, bist du abends eben ein bisschen plemplem."
Es war Bruce Chatwin, der mit seinem Buch In Patagonien dieses ferne Land im Süden für viele im Norden zu einem Sehnsuchtsziel machte. Er beschreibt darin die eigensinnigen Charaktere und Geschichten der Einwanderer, besucht am Ende auch die Familie Eberhard und gelangt zur Höhle des Mylodons - das Ziel seiner Reise. "Ich habe das Buch irgendwann einmal als Student gelesen, er hat so einiges durcheinandergebracht", sagt Rodolfo Eberhard.
Er steht im blauen Overall in seiner Werkstatt und schraubt an einem Außenbordmotor herum, ein Seitenscheitel teilt seine hellblonden Haare. Er antwortet auf Deutsch. "In der Familie sprechen wir nur noch Spanisch, seit mein Vater gestorben ist", sagt er. Der hieß Hermann, wie sein älterer Bruder und wie alle Erstgeborenen, seit sich der erste Eberhard hier vor 120 Jahren niederließ. "Was sich bis heute erhalten hat, ist vermutlich die Ordnungsliebe und die Pünktlichkeit", sagt Rodolfo. Und die schlesischen Knödel und Kartoffelpuffer. Er blickt auf den Zeiger seiner Armbanduhr, schraubt weiter, die Motoren müssen fertig werden. (Mirco Lomoth, DER STANDARD, Rondo, 08.11.2013)