Auch zweieinhalb Jahre nach dem Ende der Herrschaft Ben Alis steckt Tunesien noch in politischen Debatten um die Zukunft des Landes fest. Das laufende Scheitern von Gesprächen hat viele frustriert. Es wird wohl noch länger dauern, bis der Stacheldraht aus dem Zentrum von Tunis entfernt werden kann. Der politische Stillstand frustriert die einst revolutionsbegeisterten Tunesier.

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Rund um die Gegend vor dem Innenministerium in Tunis' zentraler Avenue Habib Bourguiba wurde er seit zweieinhalb Jahren nicht weggeräumt: der Stacheldraht, der einst im vergeblichen Bemühen aufgestellt wurde, jenen Demonstranten Einhalt zu gebieten, die das Ende von Ben Alis Herrschaft forderten. Doch auch nach dessen politischem Ende rissen die Proteste allenfalls kurzfristig ab, die immer wieder fehlschlagenden Versuche der Parteien, sich auf ein zukünftiges Format für den Staat zu einigen, sorgen für regelmäßige Demonstrationen.

In weiten Teilen der Bevölkerung hat sich aber auch Frustration breitgemacht: "Nicht einen Schritt ist es weitergegangen", hört man immer wieder. Auch der marode Zustand der Wirtschaft und die Arbeitslosigkeit von zuletzt offiziell 16 Prozent sorgen für Verbitterung.

Die vor knapp zwei Wochen aufgekommene Hoffnung hat sich zerschlagen. Damals hatten sich die Parteien unter Vermittlung der Gewerkschaft UGTT auf Dialog und einen ambitiösen Zeitplan für eine Verfassung und Neuwahlen geeinigt. Doch schon am ersten Schritt sind die Verhandlungen gescheitert – der Auswahl eines Übergangspremiers. Mehrfach wurde die Deadline verschoben, an diesem Montag wurde dann die vorläufige Suspendierung des "Nationalen Dialogs" verkündet. Weitere Schritte, die laut Plan bis Ende November fällig gewesen wären – der Beschluss eines Wahlrechts, der Rücktritt der Regierung und Einigung auf eine Verfassung – sind in die Ferne gerückt.

Am Ende standen gegenseitige Schuldzuweisungen: Die regierende "Troika" der islamistischen Ennahda und ihrer Koalitionspartner hatte auf ihrem Kandidaten – dem 88-jährigen Ahmed Mestiri – bestanden. Dieser gilt zwar als erfahren und wird von weiten Kreisen geschätzt, die Opposition fürchtete aber, Alter und gesundheitliche Verfassung würden ihn zum Spielball der Troika machen. Diese habe zudem auf ein Scheitern der Gespräche spekuliert, um weiter an der Macht bleiben zu können. Die Regierung wiederum wirft der Opposition vor, nicht zu Kompromissen bereit zu sein. Und beide beschuldigen Anhänger des alten Regimes, alles zu unternehmen, um eine mögliche Einigung zu sabotieren.

Immerhin: Auch nach dem Scheitern der Gespräche versicherten die Beteiligten, es gebe für Tunesien keine Alternative zum Dialog. So wie in Ägypten werde es nicht werden, sind sich fast alle sicher – das Land gilt vielen als abschreckendes Beispiel. "Vielleicht ist es ganz gut, dass sie jetzt so lange diskutieren", sagt auch ein lang gedienter tunesischer Diplomat. Immerhin arbeite man dann am Ende auf einer Basis, auf die sich alle öffentlich geeinigt hätten.

Tourismus im Visier

Zunehmende Sorgen um die Sicherheit gibt es trotzdem: Bei offenbar koordinierten Angriffen auf Checkpoints starben jüngst mehrere Sicherheitskräfte, bei versuchten Selbstmordanschlägen auf Hotels einer der Angreifer. Auch der zuletzt langsam erholte Tourismus geriet erstmals ins Visier. Es sei in der Tat nicht immer einfach, sagt Tourismusminister Jamal Gamra zum Standard. Aber: "Seit der Revolution sind mehr als 16 Millionen Touristen nach Tunesien gekommen, keiner von ihnen ist angegriffen worden."

Für neue Spannungen könnte indes eine Meldung vom Donnerstag sorgen: Anwälte der "Initiative zur Wahrheitsfindung über Morde", die die tödlichen Angriffe auf die beiden Linksoppositionellen Chokri Belaid und Mohamed Brahmi untersuchen, sagten in einer Pressekonferenz, beide seien mit einer Beretta mit 9-mm-Kaliber erschossen worden. Über diese Waffen verfügten vor der Revolution nur hohe Funktionäre der Staatssicherheit. (Manuel Escher aus Tunis, DER STANDARD, 8.11.2013)