Die Lesenden sind frei, oder - wie im Bruchwerk der medialen Schwemme - auch gezwungen, zwischen "ausgewogenen" Informationshappen Zusammenhänge herzustellen: Brigitte Kronauer.

Foto: Werner Nisch / Klett Cotta

In der ersten der zwei Vorlesungen ihrer Wiener Ernst-Jandl-Dozentur im Juni 2011 erzählte Brigitte Kronauer, wie ihre Mutter dramatische Kindheitsepisoden der Tochter später erzählend variierte: "Wenn ich tatsächlich Augenzeuge eines Ereignisses war, stellte ich nach und nach fest, dass die Realität nicht allein hinter den Ausmalungen meiner Mutter zurückblieb. Sie wich auch stark davon ab. Nur durch den Mund meiner privaten Meistererzählerin erhielten die Dinge Farbe und Dramatik."

Nun positioniert sie mit einer älteren Dame, die ein Haus am Rande der Stadt bewohnt, eine solch notorische und manipulierende Erzählerin im mittleren der drei je rund 200 Seiten umfassenden Teile ihres neuen Romans Gewäsch und Gewimmel: Auf zwölf Wanderungen durch das nahe Naturschutzgebiet rekapituliert Luise Wäns die Gespräche und Ereignisse, die sich im Laufe eines Jahres während der in ihrem Haus stattfindenden Abendgesellschaften entwickeln. Bisweilen gibt ihr dabei ein Nachbar aktuellen Bericht über die Lage: Trends der beliebtesten Vornamen, Kommerzexpansion, Grundstücksspekulation, neuer Oberbürgermeister; aber auch Kindheitsepisoden, die als Sängerin berühmte Großmutter, der Selbstmord ihres talentierten und empfindsamen Enkels sind wiederkehrende Motive ihrer Erzählung und verbinden sich mit ihrer schwärmerischen Verehrung des Herrn Hans, des Initiators der häuslichen Zusammenkünfte.

Vermitteln ihre Erzählung-Wanderungen vorerst den Eindruck, sie sei Herrin und Zentrum dieser Geselligkeiten, so wird nach und nach klar, dass da der Bekanntenkreis ihrer Tochter Sabine - ein geläuterter Biometzger, eine Galeristin, maliziös, eine Gattin samt Frauenarzt, ein Baumarktinhaberpaar, generös, als sommerlicher Hausgast ein kanadisches Indianermädchen, ein Hobbyfotograf, langweilig, darunter - sein konkurrierendes Mittelstandswohlleben feiert und sie das Geschehen nur vom Rande ihres Fernseh-Winkel-Ausgedinges mitbekommt.

Ungeschminkt erscheinen die Widerstände, die Tochter, immerhin schon fünfzigjährig und qualifizierte Mitarbeiterin einer Bank, zu respektieren: "Das brave, bittere Mädchen" ist noch die freundlichste Charakterisierung der Mutter, die sich über die Zeugung des unglücklichen Enkels in altgeiler Verachtung auslässt.

Frau Luise spinnt ihr Erzählgarn zur Entlastung, die umso mehr vonnöten ist, als ihre Tochter alsbald den allseits angehimmelten Herrn Hans, der der Mutter das Glück ins Haus gebracht zu haben schien, heimlich heiratet. Darin verfangen sich aber auch die fixe Idee, auf den Wanderungen im Rucksack Geld und Schmuck mitzuführen, und drei rätselhafte Ereignis-Bilder unter dem Kürzel "das Mädchen, der Metzger, die Jäger", über denen sie immer wieder ins Grübeln gerät. Der Antritt jedenfalls der geplanten Hochzeitsreise des spätjungen Paares nach Wien wird durch einen tags zuvor im Naturschutzgebiet verübten und mysteriös bleibenden Raubüberfall auf Frau Wäns vereitelt.

Drei bildhafte Rätsel

Die drei bildhaften Rätsel eines jähen Ausbruchs des drohenden, verletzenden und tötenden Fremden im vertrauten Eigenen sind im dritten Teil des Romans in ein immanentes Todesbewusstsein der Lebenden verwandelt, tauchen aber auf einer unverhofft gewährten allerletzten Wanderung an der Seite des nunmehr entzauberten Herrn Hans wieder auf.

Der erste Teil des Romans besteht aus einem Prachtfeuerwerk von Lebenssplittern zahlreicher Personen jeden Alters, von der kleinen, stets zu bösen Streichen aufgelegten Ilse, zum Beispiel, über den frommen und tröstungsbereiten Priester Clemens Dillburg bis zum bekannten Schriftsteller Pratz, der sich selbst und seinem Verleger die Wechselfälle des Autorendaseins erklärt.

Drehscheibe dieses grotesken Treibens "gemischter Meldungen", das von unvermittelt gestellten Rätselfragen und anonymen Nachrichten durchfunkelt wird, ist die Physiotherapeutin Elsa Gundlach, zu deren Klienten die Mehrzahl der wie aus dem Nichts auftauchenden Figuren dieser Minidramen zählt. Was sie in ihrer Praxis erfährt, versucht sie bisweilen ihrem Freund Henri rund um die gemeinsamen nächtlichen, meist asynchronen, Schlafversuche zu erzählen. Episoden individuellen und gesellschaftlichen Lebens, verdeckte Anspielungen und offene Bezugnahmen, auch auf Kronauers vorangegangene Romane, diskret verstreut: Gewäsch also?

Die Lesenden sind frei, oder auch - so wie die dem täglichen Bruchwerk der medialen Schwemme ausgesetzten Bürgerinnen und Bürger - gezwungen, zwischen "ausgewogenen" Informationshappen Zusammenhänge herzustellen und Bedeutungen zu destillieren. Frau Wäns spielt dabei eine von vielen Nebenrollen, wiewohl ihr zur Rehabilitation eine besondere heilgymnastische Obsorge zuteilwird.

In der Verschränkung von Bildlichkeit und Glaubensinhalt ließe sich das zugleich kulturanthropologische und gesellschaftskritische Generalthema von Gewäsch und Gewimmel erkennen, es ist im ersten Teil des Romans in einer religionsästhetischen Reflexion des Geistlichen Dillburg, dessen Bruder in Wien (sic!) als Zuhälter erfolgreich und gewaltsam zu Tode gekommen war, versteckt.

Der dritte Romanteil greift anhand kurzer biografischer Schlaglichter Motive und Personen der vorangehenden Teile auf, führt sie zusammen oder dekonstruiert sie: Pratz etwa, dem die Autorin spielerisch einige eigene Schreibgrundsätze in den Mund gelegt hat, muss in einem zugleich berührenden und lakonischen Abgesang den Lebens- und Romanschauplatz verlassen, wie zuvor schon der edle Metzger. Aber Dillburgs Predigt, mit genial komödiantischer Dramaturgie indirekt ins Spiel gebracht, spricht anhand eines großen Weltgerichts-Diptychons, in dem das zuvor im Roman entworfene Personal einer hybriden Gesellschaft wie ein insektenhaft wimmelndes Gewese aufscheint, noch einmal über die Verbindung von Bild und Glauben.

Ganz zum Schluss aber reißt die ironisch säkularisierte Paraphrase einer Erlösergeburt den Abgrund zwischen grandioser Selbstverkennung der Menschen und ihrer existenziellen Ohnmacht endgültig auf. Pflichtlektüre! (Kurt Neumann, Album, DER STANDARD, 16./17.11.2013)