István Kemény narrt den Leser mit leutseliger Kunst.

Foto: Sándor Szabó

Wien - Die Budapester Korvin-Bibliothek beherbergt seltsame Gäste. Ein heruntergekommener Graf lässt sich jeden Tag die Geschichte der Familien des Ungarischen Hochadels aushändigen. Aus den zehn Prachtbänden baut sich der Aristokrat eine Palisade, hinter der er ein Nickerchen hält. Arbeit fällt in dieser Brutstätte des heutigen Ungarn kaum an. Der Schauplatz von István Keménys Roman Liebe Unbekannte ist ein erfundener Ort. Die Stagnation der 1980er bildet die Kulisse, auch wenn es in den Archivräumen hoch oben auf der Budapester Burg von verkrachten Künstlerexistenzen nur so wimmelt.

Auf den ersten Blick ist Liebe Unbekannte ein praller Familienroman. Der junge Tamás Kriszán sitzt in der Bibliothek, um lebenstüchtig zu werden. Die Gelehrten rund um ihn sind Schattengewächse. Altstalinisten halten sich im "Institut für die Herausgabe von Enzyklopädien" verborgen. Ihr furchtbarster wird "Klein-Mephisto" genannt. Patai, ein wahrer Teufel in Gelehrtengestalt, hat die Großeltern seiner Jugendliebe Emma auf dem Gewissen.

Opa Olbach hätte der "Marx des 20. Jahrhunderts" werden sollen. Aber wie Olbach geht es fast allen Figuren in diesem 860-seitigen Werk. Sie schließen nach der Katastrophe von 1956 mit den regierenden Kommunisten einen labilen Burgfrieden. Im Gegenzug verweigern die findigsten Köpfe der Realität die Anerkennung. István Keménys Helden sind schrullig, weil sie nichts haben, woran sie sich klammern könnten.

Tamás' Familie kriecht in Nyék unweit der Hauptstadt Budapest unter. Der Vater verdingt sich als Nachtwächter einer volkseigenen Konservenfabrik. Auf den Lößterrassen von Nyék blickt man bis nach Siebenbürgen hinüber. Die Donau strömt, als wäre sie aus ihrem Bett gesprungen und flösse jedem Magyaren durch Mark und Bein. Ostern feiert man, indem man die Damen mit Parfüm besprengt. Im Ungarn der Kádár-Jahre konnte jeder tun, was er wollte, wenn er sich nur kooperativ verhielt. Die süßesten Früchte des Wahnsinns reifen im Verborgenen. Tamás' Papa baut in seinen Mußestunden eine Zeitmaschine. Zwischen Vergangenheit und Zukunft liegt merkwürdig verstrahlt die Gegenwart, die niemand besiedeln möchte. Die Erbauer des ungarischen Sozialismus verhalten sich bürgerlicher als jeder Kapitalist. Unfreiheit ist die objektive Kraft, die die Bewohner eines lahmen Landes unfreiwillig verschmitzt dreinsehen lässt.

In diesem Roman regiert die falsche Zuversicht. Sie schürt einen Gute-Laune-Ton, der bestürzt. Mitunter glaubt man, das Buch komme niemals vom Fleck. Fast übersieht man das zentrale Motiv. Tamás spürt sich in der Atmosphäre der Uneigentlichkeit als Tölpel heranwachsen. Im lässlichen Gespräch mit seinen Angehörigen gelobt er, freilich lachend, sie zu rächen. Doch an wem soll er Rache üben? Alles, was der Staat seinen Kindern zur Verfügung stellt, kann nur als Überbrückungshilfe angesehen werden.

Auf die Marotten der ungarischen No-Future-Generation verwendet Kemény (52) satirische Pinselstriche. Von der Leichthändigkeit dieses auch als Lyriker hervorgetretenen Autors könnten deutschsprachige Prosa-Chronisten eine ganze Menge lernen.

Liebe Unbekannte ist der große Zeitroman, der sich hinter ein paar großzügig ausgestreuten Symbolen verschanzt. Die Bibliothek von Budapest beschirmt ein Zugangstor zur Unterwelt, in der die Blüte der ungarischen Nachwendegesellschaft erst noch heranreift. Die Suche nach dem "übermenschlichen Menschen" fördert Dämonen aus Papier zutage. Jeder schleppt "die Darstellerliste seines Lebens" mit sich herum. Kein Wunder, dass es am Ende von Liebe Unbekannte keine Helden zu bestaunen gibt. Nur ein außerordentliches Buch. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 21.11.2013)