"Wien ist der perfekte Ort für Melancholie."

Foto: Jelena Gučanin

"Ich bin ein Kind der Globalisierung", sagt Estuardo Chacon.

Foto: Jelena Gučanin

Estuardo Chacon muss tief Luft holen, bevor er anfängt, seine Geschichte zu erzählen. "Die ist nämlich lang", sagt der fröhliche 35-Jährige lachend und zündet sich eine Zigarette an. Die Kulisse: ein traditionelles Wiener Gasthaus im vierten Bezirk, das er oft besucht. Das gute Essen ist eines der wenigen Dinge, die er in Wien lieben gelernt hat.

Geboren wurde Estuardo als Sohn einer Sozialarbeiterin und eines Kleinunternehmers in Guatemala-Stadt, im El Barrio de la Candelaria, dem ältesten und traditionellsten Teil der Stadt. "Ich habe keine enge Beziehung zu meinen Eltern. Ich wuchs ziemlich auf mich allein gestellt auf", erzählt er. Nach der Schule wollte er nicht gleich anfangen zu studieren. "Ich wollte die Welt sehen." Sein Ohrring im linken Ohr strahlt mit ihm um die Wette, wenn er über seine größte Leidenschaft spricht: das Schreiben. Sein Talent entdeckte er in jungen Jahren. "Das prägte den Rest meines Lebens."

"In meiner eigenen Stadt hatte ich keinen Platz zum Leben"

Mit 19 Jahren verließ er sein Zuhause. "Dann fing mein Erwachsenenleben an", sagt er. Er hielt sich über Wasser, indem er als Schauspieler im Kindertheater arbeitete. "Ich hatte nur 70 Euro in der Tasche. 50 gingen für die Miete meines ersten Zimmers drauf, 20 für Zigaretten und Kaffee." Schließlich verschlug es ihn zum Radio. Nachts legte er Jazz-Musik bei einem bekannten Radiosender auf. "Das ist nicht so spannend, wie es klingt", erinnert er sich. Er blieb nicht lange dort. Estuardo nahm einen Reinigungsjob auf einem Kreuzfahrtschiff an. Neun Monate lang. "Diese Zeit war sehr intensiv."

Zurück in Guatemala, lebte er eine Zeitlang in einer Jugendherberge. "In meiner eigenen Stadt hatte ich eigentlich keinen Platz zum Leben." Er fand schließlich eine Wohnung und begann wieder, beim Radio zu arbeiten, dieses Mal als Produzent. "Der Glaube an mich selbst war das Einzige, das mich dazu trieb, mich weiterzuentwickeln", sagt er heute. Danach war es für ihn aber an der Zeit, weiterzugehen. Er klopfte an die Türen der größten Werbeagenturen des Landes. Daneben schloss er ein Studium in Marketing ab. Doch schnell wurde ihm klar: "Es ging dort nur ums Verkaufen. Ich aber wollte mit meiner Arbeit etwas bewirken." 

"Romantischer Reisender und Möchtegern-Autor"

Müde und frustriert schnappte er sich im Alter von 26 Jahren sein Motorrad und bereiste sein Heimatland. Auf dieser Reise traf er auch den kolumbianischen Fotografen Cristóbal von Rothkirch. Es scheint, als ob Estuardo interessante Menschen magisch anzieht. Heute fotografiert er selbst leidenschaftlich gerne.

Einige Monate später entschied sich Estuardo für sein nächstes Abenteuer: "Nur mit meinem Rucksack überall hinfliegen – das wollte ich machen." Er bereiste für eine große Reiseagentur ganz Zentralamerika, plante und führte Touren für kleine Gruppen durch. Dabei beförderte ihn alles, was gerade zur Verfügung stand: Busse, Esel, Mopeds, Boote, Kanus oder Fähren. Drei Jahre lang arbeitete er unter extremen Bedingungen. Doch Estuardo liebt das Neue und Aufregende.

Dieser Job brachte ihn auch nach Europa. Nach einem kurzen Stopp in Newcastle in England reiste er vor allem durch Spanien. Als "romantischer Reisender und Möchtegern-Autor", wie er sich selbst bezeichnet, hatte er die falschen Vorstellungen davon, was Europa ist. "Ich habe die ganze Zeit versucht, Europa in Europa zu finden, und das war ziemlich schwierig. In der U-Bahn in Barcelona dachte ich mir: Hier sieht es aus wie auf dem Markt in Guatemala. Ich habe nicht erwartet, dass so viele Menschen von überall hier leben."

Der gesprächige Estuardo ist trotz allem ein stiller Abenteurer. Er, der so viel gesehen hat und in so viele Berufe hineinschnupperte, ist zuallererst ein sehr nachdenklicher Mensch. Auf den ersten Blick wirken seine Entscheidungen impulsiv, doch für ihn steckt hinter jeder Abzweigung, hinter jedem Menschen, den er kennenlernt, viel mehr. "Ich analysiere alles und jeden", sagt er. Das ist ein Grund, warum er sich vor fünf Jahren dafür entschied, Kultur- und Sozialanthropologie zu studieren. "Das Studium gab mir eine Methode, ein System und Werkzeuge." Dafür musste er wieder weiterreisen: "Das Logischste für mich war, in ein Land zu gehen, in dem ich selbst zum Fremden wurde, um mithilfe dieses Prozesses meine neue Umwelt zu verstehen."

Vom Westbahnhof zu den Habsburgern

Zum Fremden gemacht wurde er sein Leben lang. "Dabei bin ich ein Kind der Globalisierung", wiederholt Estuardo immer wieder. In Guatemala war er ein "mestizo", und doch "zu weiß für die anderen". "Manchmal glauben die Menschen mir nicht, dass ich aus Guatemala komme. Sie halten mich für einen Amerikaner." In seinem Herkunftsland sind 40 Prozent der Gesamtbevölkerung Indigene, es gibt viele postkoloniale Konflikte. "Ihre Identitäten sind so dramatisch verwundet wie jene der Österreicher", erklärt Estuardo seine heutige Faszination für Österreich.

Ursprünglich wollte er in Deutschland studieren, aber er hätte dafür bereits Deutschkenntnisse vorweisen müssen. Klar war für den angehenden Anthropologen jedoch, dass es ein deutschsprachiges Land sein muss. Ein Freund schlug ihm schließlich vor, nach Wien zu gehen. Das war das erste Mal, dass er von der Stadt hörte. "Ich hatte kein Bild von Österreich im Kopf, nicht einmal das Lederhosenimage", sagt er. Aus kleinen Telefonzellen im südlichen Spanien organisierte er seine Dokumente, reiste nach Berlin und von dort aus nach Wien. Mit seinem riesengroßen Rucksack und einem kleinen Trolley kam er am Wiener Westbahnhof an. Die äußere Mariahilfer Straße war eine seiner ersten Begegnungen mit der Stadt. "Mein erster Gedanke war: Was für ein Drecksloch", sagt er lachend. "Ich erwartete von Europa den ersten Bezirk."

So schnell ihn die Oberfläche dieser Stadt auch faszinierte, so schnell wurde Estuardo auch von ihr enttäuscht. 2008 begann er Deutsch zu lernen, bis er mit seinem Studium anfing, mit einem Bachelor abschloss und mit einem Masterstudium fortsetzte. Für ihn war es ein Schock zu erfahren, dass er als Student aus einem Drittstaat ohne Arbeitsmarktprüfung nur zehn Stunden die Woche arbeiten durfte. "Ich hatte keinerlei Unterstützung. Ich musste arbeiten, um zu überleben. Stattdessen wurde ich abhängig gemacht und in eine Ecke gedrängt", sagt Estuardo, der damals 30 Jahre alt war. Er hatte verschiedene Mini-Jobs, um etwas dazuzuverdienen. Und er wäre nicht er selbst, wenn nicht auch etwas Skurriles dabei gewesen wäre. So kam es, dass er dem Sohn von Francesca Habsburg-Lothringen Spanischunterricht gab. Wie er diesen Job bekommen hat? "Ich lerne Leute kennen. Das ist kein Problem für mich."

"Ich bin ein Kind der Globalisierung"

Heute ist er selbstständig, unter anderem als Grafikdesigner. Seine vielfältigen Talente lebt er so gut wie möglich aus. "Manchmal bin ich hier sehr glücklich, manchmal sehr frustriert. Dass wir – die offensichtlichen 'Ausländer' – mit der zerbrochenen Identität Österreichs klarkommen müssen, nervt mich. Wie kann ich in einer Gesellschaft leben, in der sich die Menschen für jedes kleine bisschen Anderssein entschuldigen müssen?" Er wünscht sich mehr soziale Anerkennung. "Österreich muss Verantwortung übernehmen für seine Migranten. Auch sie bauen dieses Land auf, machen es zu dem, was es ist. Aber sie werden nicht akzeptiert. Das ist sozialer Genozid."

Mehrmals betont Estuardo: "Ich bin kein Migrant. Österreich machte mich zum Migranten. Ich bin ein Reisender, ein Kind der Globalisierung." Für ihn ist unverständlich, dass die Hürden für Studenten aus Drittstaaten so hoch sind. Die Folge: "Österreich wird weiterhin der einsame und stille Ort bleiben, der er ist."

"Für mich gibt es keine Landesgrenzen"

Für die Zukunft hat er einiges geplant. Falls er sich entscheidet, eine akademische Karriere zu starten, könnte er sogar in Wien bleiben. Doch die Voraussetzungen sind keine guten: "Nach fünf Jahren habe ich leider nur das Gefühl, irgendwo hineingepresst zu werden. Warum sollte ich das schlechte Organ eines schlecht funktionierenden Organismus werden? Warum sollte ich der Dorn in diesem System sein, warum kann ich nicht die Blume sein?"

Trotz allem würde er Wien vermissen. Seine Gedanken drückt er, wie so oft, poetisch aus: "Diese respektvolle, erschreckende Distanz zwischen den Menschen wird mir fehlen. Wien ist der perfekte Ort für Melancholie. Die schöne Architektur, die zur gleichen Zeit zu sauber und zu perfekt sein kann. Auch die Lebensqualität hier ist nicht vergleichbar mit anderen Städten."

Vor sieben Jahren verließ er seine Geburtsstadt, seit 2008 war er nicht mehr in Guatemala. Sein Leben als Reisender und "ständiger Tourist", wie er sich selbst bezeichnet, hat Spuren hinterlassen. "Manchmal weiß ich nicht mehr, wie ich über diese Welt nachdenken soll. Du musst nur in ein Flugzeug springen und bist in ein paar Stunden am anderen Ende der Welt. Für mich gibt es keine Landesgrenzen mehr. Wer nirgends so stark verwurzelt ist, kann auch überall hingehen. Es ist, als hätte ich Flügel." (Jelena Gučanin, 6.12.2013, daStandard.at)