"Es ist unmenschlich, einen zu zwingen, diesen Unsinn anzuhören": Michael Krüger.

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STANDARD: In Ihrem neuen Lyrikband "Umstellung der Zeit" heißt es über einen Elefanten, der von winzigen Vögeln traktiert wird: "Sie picken ihm hastig / ein Gedicht auf den Rücken. / Er lässt sie schreiben, / Gedichte sind gut / für die Haut." Wem gehen heute noch Gedichte unter die Haut?

Michael Krüger: Ja, zum Beispiel mir, ich kann gar nicht genug davon kriegen. Ich habe ein ganz großes Vergnügen daran, vollkommen unsystematisch Gedichte zu lesen. Am liebsten habe ich es, wenn ich morgens aus dem Bett komme und mich an meinem kleinen Küchentisch setzte, zwei Sachen zu machen: entweder eines der vielen Gedichtbücher, die da herumliegen, in den verschiedensten Sprachen zu lesen oder aber ein Gedicht zu übersetzen. Oft ist es schön, wenn die Sachen schon mal übersetzt worden sind, dann kann man überprüfen, wie man es anders gemacht hätte. Und da sitze ich eine halbe Stunde, trinke meinen Espresso, esse meine Tomate mit Öl und übersetze, wie das Gefühl beschrieben wird, wenn jemand aus einem heißen Sommertag in den Schatten geht.

STANDARD: Sicher, dieses Gefühl kennt jeder. Tatsache ist, dass Lyrik geachtet, aber wenig gelesen wird.

Krüger: Tatsache ist auch, dass jeder von uns - also auch der größte Verächter von Poesie - ununterbrochen mit den Formen von Dichtung umgeht. Nämlich im Lied, im Song, jeder Rapper ist ein Dichter, jedes Kind lernt Lieder auswendig. Und da jeder Englisch kann, versteht man sogar, was Bob Dylan singt. Was aber verlorengegangen ist, ist das Verhältnis des Einzelnen zu einem einzelnen Text. Das Massengefühl, mit mehreren Tausend Menschen in einer Arena zu sitzen und einem Sänger zuzuhören, kennt jeder. Aber zu Hause zu sitzen und ein Gedicht von Novalis, vom späten Goethe oder von Hölderlin zu lesen ist immer mit einem Müssen verbunden. Warum das so ist, weiß ich nicht. Ich denke aber, dass vielleicht eines Tages, wenn der Verdruss an der öffentlichen Rede so groß geworden ist, man es einfach nicht mehr aushalten wird.

Als ich den Wahlkampf in Deutschland verfolgt habe, musste ich oft einfach aufstehen und schreien. Ich bin schreiend durch die Wohnung gelaufen und habe mir gedacht: Das darf nicht sein! Es ist einfach unmenschlich, einen zu zwingen, sich diesen Unsinn anzuhören! Mit dem Dichter Joseph Brodsky bin ich folgender Meinung: Unsere Zivilisation sähe anders aus, wenn in den Parlamenten und in den Vorstandsetagen vor jeder Sitzung, bei denen es um wichtige Entscheidungen geht, ein Gedicht vorgelesen wird. Ich bin mir sicher, jeder würde sich anstrengen, anders zu sprechen. Ja, die Welt sähe anders aus.

STANDARD: Ihr neuer Gedichtband trägt den Titel "Umstellung der Zeit" - Das Gedicht "Kein Haiku" lautet: "Eine tote Amsel / vor meinem Fenster / Ich warte eine Stunde / auf die Umstellung / der Zeit." - Was hat es also mit der "Umstellung der Zeit" auf sich?

Krüger: Ein totes Tier erinnert einen automatisch an die eigene Sterblichkeit. Und wenn man wie ich das biblische Alter von siebzig Jahren erreicht hat und mit einem lange ausgeübten Beruf aufhört, dann fragt man sich natürlich: Was macht man mit der verbleibenden Zeit? Der tote Vogel, das Memento mori, erinnert einen daran: Du musst jetzt mit deiner Zeit anders umgehen - und du darfst es auch! Zum Beispiel möchte ich wahnsinnig gern noch einmal Proust lesen. Das ist das Projekt für den nächsten Sommer, wenn die Tage länger werden, will ich noch einmal durch alle Bände steigen. Ich werde jeden Abend ein Kapitel lesen, zwanzig bis dreißig Seiten, und so durch den ganzen Sommer mit dem Projekt Auf der Suche nach der verlorenen Zeit verbringen.

STANDARD: Sie werden aber doch sicher auch schreiben?

Krüger: Ja! Ich habe zwei große Projekte. An den Gedichten will ich weiterarbeiten. Allerdings möchte ich etwas anderes ausprobieren, etwas größere Formen. Ich habe eben immer Angst davor gehabt, bestimmte narrative Elemente in das Gedicht zu holen, jetzt will ich mich aber trauen, dies zu tun, ich will mich selber dazu überreden. Und das Zweite ist: Ich möchte noch ein ziemlich großes Prosabuch schreiben, mein "Testament", wie ich es immer nenne. Und beide Projekte werden mich die nächsten zehn Jahre - so Gott will, dass es mich noch gibt - beschäftigen.

STANDARD: Sie schreiben in einem weiten Sinn Naturlyrik. Nur geht es bei Ihnen weder erhaben noch erhoben zu. Das Gedicht "Wer war es?" zeigt es glasklar: "Im Honig vom vergangenen Jahr / steckt unversehrt / eine Fliege. / Der perfekte Mord. / Kriminalromane / könnten so anfangen / oder so enden."

Krüger: Mein Gedicht versucht, zwei Elemente zu verbinden. Zum Ersten nimmt man wahr, dass die Fliege zwar tot ist, aber ihre Form behält. Unsere Vorstellung vom Tod ist ja üblicherweise die, dass wir zerfallen. Das wird mit dem Motiv vom Kriminalroman verknüpft, in dem normalerweise die gefundene Leiche schon etwas der Witterung ausgesetzt ist. Sie steht meist am Anfang der Geschichte. Vielleicht gibt es aber Geschichten, in denen die Leiche erst am Schluss auftaucht. Dann könnte man sagen, man nimmt das ganze Leben als einen Kriminalroman auf der Suche nach sich selber - und wird am Ende sich selber als Leiche finden.

STANDARD: Ist es schwierig geworden, im Buch der Natur zu lesen?

Krüger: Das riesige Buch der Natur war früher jedermann zugänglich. Mittlerweile ist es für jüngere Menschen vollkommen unverständlich, wie man eine Eiche von einer Erle unterscheidet. Jeder kennt mehr Automarken als Baumnamen. Wer weiß, wo und wie Artischocken wachsen?

Das heißt, unsere Lernfähigkeit am Buch der Natur, die natürlich auch eine Differenzierungsleistung ist, ist gewaltig gesunken, vor allem bei den Menschen, die in der Großstadt geboren werden und hier leben. Dass es aber ein unendliches Trainingslager ist für unseren Verstand und unsere Wahrnehmung der Welt, das wird vergessen. Deshalb lautet meine These: Das Buch der Natur gehört wie alle anderen großen, bedeutenden Bücher zu unserer Ausstattung und sollte in einem Leben irgendwann mal bewusst zur Kenntnis genommen werden.

STANDARD: Michael Krüger ist Hanser, und Hanser ist Michael Krüger. - Muss Ihr designierter Nachfolger bei Hanser, Jo Lendle, drei Kreuze schlagen, wenn er den Namen Michael Krüger irgendwo sieht?

Krüger: Ich hoffe nicht. Er wird mit Sicherheit seine eigene Handschrift mitbringen. Aber es wäre natürlich furchtbar, wenn er meine Handschrift löschen würde. Denn Literatur entsteht auf den Schultern von anderen. Das heißt, meine Kollegen und ich haben Hanser und die anderen Verlage aufgebaut. Er muss dabei auch weit voraussehen, etwa was die Digitalisierung von Literatur betrifft - das ist mir schwergefallen. Er muss sich mit der Situation im Buchhandel und mit Amazon auseinandersetzen. Das heißt, er hat genug zu tun, um den Verlag zu leiten. Aber er muss eben auch dafür sorgen, dass die Literatur das Hauptstück des Verlages ist und bleibt.

STANDARD: Die österreichische Abteilung, Zsolnay und Deuticke sind doch auch für Ihren Nachfolger feste Größen?

Krüger: Ja. Wir sind sehr stolz darauf, dass sich die beiden Verlage Zsolnay und Deuticke so fest etabliert haben. Das war ja am Anfang nicht klar. Die wichtigen Verlage Österreichs lagen zuvor nicht in Wien. Wir haben da wieder das Zentrum besetzt und auf die Kraft der Donaumetropole gesetzt. Die Rechnung ist aufgegangen.

STANDARD: Welche Tätigkeit als Verleger wird Ihnen am meisten abgehen?

Krüger: Das Lesen von Manuskripten. Doch auch hier hat sich viel im Verlagswesen verändert. Die Manuskripte werden in digitaler Form in null Komma nichts gesendet. Jedes amerikanische Manuskript wird an hundert Leute in der ganzen Welt geschickt. Man weiß also, dass das, was man auf dem Bildschirm liest, gleichzeitig Leute in Kalkutta, in New York, in Paris oder Sizilien bekommen - alle sitzen vor ihren blöden Rechnern und lesen dasselbe. Das ist eine schreckliche Vorstellung. Doch damit habe ich nichts mehr zu tun. (Andreas Puff-Trojan, Album, DER STANDARD, 7./8.12.2013)