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Raja Alem: "Meine Vorbilder kamen von einer großen internationalen Landkarte, von der Kunst und der Literatur. Sehr beeinflusst wurde ich von alten arabischen Büchern, etwa den Werken großer Sufis."

Foto: EPA/JUAN FERRERAS

Mekka ist die Stadt mit den höchsten Grundstückspreisen der Welt, die Bettler ebenso anzieht wie Industriemagnaten. Es ist ein spiritueller Ort, aber zugleich ein großer Handelsplatz.

Raja Alem: "Meine Vorbilder kamen von einer großen internationalen Landkarte, von der Kunst und der Literatur. Sehr beeinflusst wurde ich von alten arabischen Büchern, etwa den Werken großer Sufis." Foto: EPA

STANDARD: Frau Alem, Sie haben rund ein Dutzend Romane geschrieben, dazu Theaterstücke, Kurzgeschichten und Essays. Wie kommt es, dass Sie sich der deutschsprachigen Leserschaft erst jetzt vorstellen?

Alem: Verleger müssen Vertrauen haben in die Bücher, die sie für ihr Leserpublikum herausbringen. Die arabische Literatur ist mit Vorurteilen und Klischees behaftet. Innerhalb dieser Klischees fühlen Verleger sich sicher. Bücher aber, die aus diesem Rahmen fallen, meiden sie. Meine Romane wurzeln tief im Geist meiner Heimatstadt Mekka. Ich schöpfe aus ihren Mythen und ihrer Geschichte, und das alles in einer Sprache, die wie Texte des Sufismus entschlüsselt werden muss. Das ist beinahe unmöglich zu übersetzen.

STANDARD: Mekka ist die heilige Stätte des Islam. Hat Sie die spirituelle Kraft dieses Ortes zum Schreiben gebracht?

Alem: Diese spirituelle Kraft beflügelte meine Fantasie. Ich schreibe, um sie zu erforschen, ihre äußersten Grenzen zu erkunden und mit ihr mit zu fließen. Meine Romane sind Erweiterungen meines Selbst. Durch sie gelange ich in Welten, die uralt und futuristisch zugleich sind. Ich habe Freude daran, die Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Leben und Tod zu überschreiten. Von den Dachfenstern des Hauses meines Großvaters überblickte ich Millionen von Pilgern. Ich sah sie als farbige Lichtpunkte. In ihrer Gesamtheit waren sie eins. Das möchte ich in meinen Romanen bewusstmachen.

STANDARD: Ihr Roman ist aufgespannt zwischen der Trauer über das Verschwinden der altehrwürdigen Architektur und Visionen vom Mekka der Zukunft. Ist das ein Bild für die Gespaltenheit der saudischen Gesellschaft?

Alem: Als ich Das Halsband der Tauben zu schreiben begann, schaute ich zunächst zurück. Als ich das Buch abschloss, fand ich mich in einem anderen Gedankengang. Wie kann man behaupten, Steine seien spiritueller als Glas oder Stahl? Unsere Wurzeln befinden sich nicht in den Wänden, sondern im Zentrum, und das ist die Kaaba, von der wir glauben, dass sie das Haus Gottes ist. Nicht nur die Saudis, die Menschen weltweit leben im Aufbruch zu einer Art virtuellen Realität. Wir sind nicht mehr begrenzt durch Denkweisen oder Lebensarten, sondern wir verwandeln uns in universale, virtuelle Wesen, nach und nach verwurzelt in einem virtuellen Bereich, in dem die Herkunft und das kulturelle Erbe als ein von allen geteilter schmückender Kunstbereich angesehen werden und nicht als Gräben, über die man einander bekämpft.

STANDARD: Auch die Korruption und das scharfe Vorgehen gegen illegale Immigranten sprechen Sie in Ihrem Roman an. Sind das die Probleme, mit denen die saudische Gesellschaft zu kämpfen hat?

Alem: Der Begriff des "illegalen Immigranten" ist ungewohnt im Zusammenhang mit Mekka. Denn das Haus Gottes heißt Menschen aller Rassen und Hautfarben willkommen. In meiner Kindheit war es eine ehrenvolle Verpflichtung, Pilger aufzunehmen. Mekka besteht aus Immigranten, armen und reichen. Sie kommen mit ihrem Glauben, ihrer Freude und ihrem Leid. Diese Gegensätze bilden den Inhalt meines Buches. Mekka ist die Stadt mit den höchsten Grundstückspreisen der Welt, die Bettler ebenso anzieht wie Industriemagnaten. Es ist ein spiritueller Ort, aber zugleich ein großer Handelsplatz. Noch aus seiner alten Geschichte stammen die berühmten Märkte, auf denen Dichter ihre Gedichte vorlesen. So ist Mekka auch ein Zentrum der Kreativität.

STANDARD: Ein Thema, das im Westen stets in den Vordergrund gerückt wird, ist die Frage der Frauenrechte. Sie zeichnen sehr selbstbewusste Frauencharaktere.

Alem: Ich wollte immer über meine Großmütter und Tanten schreiben. Sie sind meine modernen Idole, Frauen mit Kultstatus, die in Nachbarschaft mit unterdrückten Frauen leben. Es ist wie überall, wo Frauen und Männer es entweder schaffen, eine Gleichberechtigung herzustellen oder von sozialen Geboten daran gehindert werden. Dieser Kampf ist das Leben, eine Herausforderung, der wir uns stellen. Ich erinnere mich nicht, dass es leicht war. Aber es war auch nicht unmöglich. Ich stürmte einfach vorwärts, wo immer eine Tür verschlossen war. Ich hatte das Glück, dass mein Vater ein "Schlüssel" war, der viele Türen öffnete. Aber ich machte auch selbst meine "Schlüssel" und bezahlte dafür einen Preis.

STANDARD: Dazu gehört die sogenannte Kopftuchfrage. Die Kulturwissenschaftlerin Christine von Braun meint, die Entkleidung des weiblichen Körpers im öffentlichen Raum habe nichts mit Emanzipation zu tun. Welche Bedeutung kommt der Verschleierung zu?

Alem: Als ich ein Teenager war und noch keine Reisen unternahm, trug ich in den Straßen Mekkas die Abaja und bedeckte mein Gesicht mit der Tarha aus durchsichtiger Seide. So lautete die Kleidervorschrift. Anständige Mädchen zeigten niemals ihr Gesicht und gaben sich auch nicht mit einem Schleier zufrieden, der ihre Gesichtszüge hätte durchscheinen lassen können. Ich trug vier Schleier, wie es dem Stand meiner Familie entsprach und war stolz darauf. Un-ter den Schlei- ern brummte mein Kopf mit Revolutionärem: Kant, Hegel, Heidegger, Nietzsche, Spinoza, Sartre, Dostojewski, Victor Hugo und D. H. Lawrence, Tolstoi und Yasunari Kawabata.

STANDARD: Wie sah die saudische Literaturszene aus, als Sie zu schreiben begannen?

Alem: Meine Vorbilder kamen von einer großen internationalen Landkarte, von der Kunst und der Literatur. Sehr beeinflusst wurde ich von alten arabischen Büchern, etwa den Werken großer Sufis wie Al-Nafari, Rumi oder Ibn Arabi, Al Suhrawardi oder Al-Hallaj, der für seine Überwindung aller Grenzen hingerichtet wurde. Unbewusst wurde mein Stil geformt von Büchern wie dem Buch der Tiere von Al-Dschahiz oder der Kosmografie Wunder der Lebewesen und seltsame Dinge von Al-Qazwini. Das war Science-Fiction, noch bevor es so etwas im Westen gab. In Saudi-Arabien sind Romane unerforschtes Gebiet. Die Arabische Halbinsel war eine Nation von Dichtern. Die Poesie war unser Geschichtsbuch. Erst später entwickelte sich eine Generation, die davon besessen war, Romane zu schreiben.

STANDARD: Sieht man von Rajaa Alsaneas Buch "Die Girls von Riad" ab, ist im deutschsprachigen Raum wenig bekannt. Welche Themenbereiche sind bestimmend?

Alem: In saudischen Romanen geht es generell um den Ausdruck von Individualität. Schriftsteller erschaffen Menschen, die frei sind, die volle Verantwortung für ihre Taten tragen und in ihrem Handeln nicht die Gesellschaft, sondern nur sich selbst vertreten. Sie überschreiten Grenzen und sind bereit, dafür zu bezahlen.

STANDARD: Wie ist es derzeit um die Zensur in Saudi-Arabien bestellt? Während man immer wieder von Verhaftungen von Schriftstellern liest, haben Sie in einem Interview erklärt, als Intellektuelle anerkannt zu sein ...

Alem: Ich bin zu meinen schriftstellerischen Arbeiten, die alles infrage stellen und tiefe Sinnlichkeit ausdrücken, niemals verhört worden. Das bedeutet nicht, dass es keine Zensur gibt. Die Grenzen sind weit. Natürlich ist es nicht erlaubt, die Religion oder die Werte der Menschen zu beleidigen. Aber wenn ich schreibe, kümmere ich mich nicht um Zensur. Im Augenblick des Schreibens befinde ich mich an einem Ort, an dem ich nicht berührt werde von dem, was erlaubt ist und was nicht. Ich schreibe frei, wie ich im Traum fliege. Aber ich beleidige nicht und provoziere auch nicht. Meine Rolle als Schriftstellerin ist es, zu fragen und nicht zu urteilen.

STANDARD: Der ägyptische Schriftsteller Gamal al-Ghitani wies in einem Interview auf jene Zensur hin, die aus der gesellschaftlichen Atmosphäre erwächst und die eine größere Herausforderung für Schriftsteller darstellt als die tatsächliche Zensur. Wie gehen Sie damit um?

Alem: Darum schrieb ich Das Halsband der Tauben zunächst auf Englisch und übersetzte es dann erst ins Arabische. Ich wollte die innere Zensur loswerden. Die englische Sprache benützte ich als fremdes Auge, mit dem ich mein Mekka anschaute, um es ungezähmt und frei zu sehen. In jeder Zeile sehe ich reale Menschen. Das trifft besonders auf die beiden Frauen Aischa und Asa zu. Ich wollte nicht, dass die warnenden Stimmen meiner Großmütter mich gleich zu Beginn, als ich versuchte, mir diese Welten zu enthüllen, davon abhalten, den Schmerz auszugraben. Im Namen der Scham oder der Furcht hätte die arabische Sprache jene Welten vertreiben können.

STANDARD: Werden in Zukunft weitere Romane von Ihnen ins Deutsche übersetzt werden?

Alem: Das ist ein Traum ohne Grenzen. Einige meiner früheren Bücher wurden in andere Sprachen übersetzt und veränderten mich als Schriftstellerin und Mensch. Jetzt werde ich sehen, wie die deutschsprachigen Leser auf mein Buch reagieren, wie sie mich und meine Welten entdecken. (Ruth Renée Reif, Album, DER STANDARD, 21./22.12.2013)