Der Schweizer Beat Manz arbeitet seit 1989 im Schulpsychologischen Dienst des Fürstentums Liechtenstein.

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Standard: Eine alte, auch bei den Lehrerdienstrechtsverhandlungen von der Gewerkschaft deponierte Forderung ist die nach mehr "Unterstützungspersonal" für die Schulen, also Psychologen, Sozialarbeiter etc. Was bedeutet dieser immer lautere Ruf nach psychologischer Intervention in der Schule?

Manz: Der Schule kommt die Aufgabe zu, die Kinder zu selbstständig denkenden, verantwortlich handelnden und auf die Berufs- und Arbeitswelt gut vorbereiteten jungen Erwachsenen heranzuführen. Sie macht das nicht allein, die Eltern übernehmen den wichtigsten Teil der erzieherischen Arbeit, aber wir wissen, wie brüchig die Familie als Institution infolge der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen geworden ist und mit welchen sozialen und ökonomischen Schwierigkeiten Teile der Bevölkerung zu kämpfen haben. Die familiären Sorgen machen vor der Tür des Schulhauses nicht halt. Die Kinder bringen diese als Mitbetroffene mit, und ihr Verhalten und Lernvermögen wird durch sie beeinflusst. Die angesprochenen Fachleute sollten den Lehrerinnen und Lehrern helfen, diese Belastungen der Kinder besser zu ertragen und diesen selbst bei der Lösung der Verstrickungen zu helfen.

Standard: Was können Psychologen in der Schule leisten, das die Lehrer selbst nicht auch können? Sind sie die "Reparaturpersonen" in einer zunehmend überforderten Schule, an die die Gesellschaft immer mehr Aufgaben delegiert?

Manz: Es geht manchmal einfach darum, dass eine Lehrkraft, wenn ein Schüler massiv und wiederholt den Unterricht stört, jemanden in der Nähe hat, zu dem sie den Schüler schicken kann, damit diese Fachperson die Ursache des Störverhaltens ausfindig macht und den Schüler zu einer guten Mitarbeit bewegt. Der Wiener Sozialpädagoge und Psychoanalytiker August Aichhorn (1878-1949, Anm.) hat den Satz geprägt: "Schwierigkeiten macht, wer Schwierigkeiten hat." Der Lehrer kann diese Sondierungs- und Klärungsarbeit in der beschriebenen Situation nicht selber leisten, weil er die Klasse unbeaufsichtigt zurücklassen müsste, um mit dem störenden Schüler ein Einzelgespräch zu führen.

Standard: Sie arbeiten im Schulpsychologischen Dienst Liechtensteins. Was sind die häufigsten Probleme, mit denen Kinder bzw. ihre Eltern oder Lehrer zu Ihnen kommen? Gibt es eine "Konjunktur" an Problemen, aus denen Sie, vom Einzelfall abstrahierend, auch etwas über veränderte Lebensrealitäten von Kindern ablesen können?

Manz: Die häufigsten Anmeldegründe beim Schulpsychologischen Dienst sind Lern- und Verhaltensprobleme. Es geht darum herauszufinden, wie groß das Lernvermögen eines Kindes ist, wenn es mit den Lernfortschritten der Klasse in einem oder mehreren Fächern nicht mithalten kann. Die Eltern und Lehrkräfte wollen wissen, ob die Lernmöglichkeiten des Kindes so sehr eingeschränkt sind, dass die Klassenlernziele für dieses reduziert werden müssen, oder ob mit einer besonderen Förderung in einzelnen Fähigkeitsbereichen der Rückstand aufzuholen ist. Bei den Verhaltensproblemen haben wir es mit Unruhe, Konzentrationsschwierigkeiten, Prüfungsängsten, Mobbing, depressiven Verstimmungen, Rückzugsverhalten und so weiter zu tun. Die sozialen Probleme lassen sich oft so erklären, dass in unserer Gesellschaft mit eher kleinen Familien das Sozialverhalten unter Gleichaltrigen erst im Kindergarten oder in der Schule erlernt werden kann.

Standard: Wenn heute über Schüler gesprochen wird, dann heißt es oft, die Kinder seien "schwieriger" geworden als früher. Stimmt das? Oder ist die Welt "schwieriger", komplexer geworden und die Schule ist noch nicht angepasst?

Manz: Sicher hat die wirtschaftliche Lage, in der sich ein Land, eine Familie befindet, Einfluss auf das Familienleben und somit auch auf die Kinder. Kinder aus sogenannten bildungsfernen Milieus haben mehr Lernschwierigkeiten und schlechtere Bildungschancen als solche, bei denen sich die Eltern um eine gute Bildung ihrer Kinder bemühen. Die Verfügbarkeit der Unterhaltungsmedien führt dazu, dass sich Kinder aus bildungsferneren Milieus öfter in virtuellen Welten aufhalten oder fernsehen und daher die Zeit – und oft auch das Geld – für bildungsmäßig förderlichere Tätigkeiten wie Lesen oder Musizieren fehlt.

Standard: Zu Ihren Aufgaben gehört die Beratung bei Laufbahnentscheidungen in der Schule: Kann man mit zehn Jahren nach der Volksschule begründet eine Entscheidung treffen, wer ins Gymnasium passt und wer nicht?

Manz: Tatsächlich gibt es einige Kinder, oft sind es Buben, die zwar eine gymnasiale Begabung hätten, bei denen sich diese aber später zeigt. Für sie ist ein früher Entscheid ungünstig. Wenn der Wechsel ins Gymnasium zu einem späteren Zeitpunkt möglich bleibt, etwa in ein Kurzzeitgymnasium, können die Probleme einer frühen Selektion entschärft werden. Eine weitere gute Möglichkeit, "Spätzünder" zur Fachhochschul- beziehungsweise Universitätsreife zu führen, ist, Absolventen einer Berufslehre den Besuch eines besonderen Kurses der Berufsschule zu ermöglichen, der zu einer Berufsmaturität führt. Diese Möglichkeit gibt es in Liechtenstein und in der Schweiz.

Standard: Liechtenstein – insgesamt rund 5000 Schüler, neun Jahre Schulpflicht – hat auch ein differenziertes Schulsystem, allerdings dauert die Primarschule fünf Jahre, danach gehen 28 Prozent in die Oberschule, die auf den Eintritt ins Berufsleben oder den Umstieg in die Realschule vorbereitet, 50 Prozent in die Realschule und der Rest in das einzige Gymnasium des Landes. Das Liechtensteinische Gymnasium dauert also nur sieben Jahre. Ist diese Schulstruktur ein politisches Streitthema, dass man sagt, sie schöpft nicht alle Potenziale aus?

Manz: Tatsächlich wurde vor einigen Jahren, 2008/09, versucht die Struktur der Sekundarschulstufe (sechstes bis neuntes Schuljahr) dahingehend zu verändern, dass der Übertritt ins Gymnasium drei Jahre später stattfindet, nach dem achten Schuljahr. Vorgesehen war eine Sekundarschule mit Stammklassen von zwei Leistungsniveaus und vier "Niveaufächern" (Mathematik, Deutsch, Englisch, Französisch) mit drei Leistungsniveaus, um jeder individuellen Begabung besser gerecht zu werden. Das Langzeitgymnasium wäre von fünf Klassen pro Jahrgang auf zwei reduziert worden. Damit wäre auch ein früher Übertritt ins Gymnasium möglich gewesen. Diese Reform wurde knapp abgelehnt.

Standard: Was muss eine gute Schule aus Sicht des Psychoanalytikers und Psychologen leisten – außer der Wissensvermittlung? Schule ist ja mehr ...

Manz: Wenn die Schule bildet, so wie Humboldt Bildung umfassend verstanden hat, also als Aneignung von Wissen über sich und die Welt im Hinblick auf eine selbstbestimmte Lebensbewältigung in Würde und Anstand, macht sie ihre Aufgabe gut. Die Kinder sollten früh die Möglichkeit erhalten, am Unterrichtsgeschehen umfassend zu partizipieren. Die Wissens- und Kompetenzvermittlung sollte einhergehen mit der Verantwortung jedes Einzelnen für die Klasse als Gemeinschaft, in der alle, gleichgültig welcher sozialen Schicht, Nationalität und Religion sie angehören, ihren Platz und ihre Anerkennung finden und in der sie in ihrer Entwicklung und Begabung gefördert werden.
(Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, 30.12.2013)