"Wer war die Frau, von der es hieß, sie habe ausgesehen wie Marlene Dietrich und geschrieben wie Virginia Woolf?": die Autorin Clarice Lispector.

Foto: P. G. Valente Schöffling & Co.

Ich frage mich, wo Clarice Lispector ist. Ich frage mich nicht, wo sie in ihrer Heimat Brasilien ist, dort trinke ich aus Kaffeetassen, auf denen Sätze von ihr stehen, lese ihren Namen auf Luxusappartementhäusern, sehe ihr rätselhaft schönes Gesicht auf Briefmarken. Ich frage mich auch nicht, wo ihr Platz in der Weltliteratur ist. Dort steht sie neben Kafka, Joyce, Borges; wenn auch für manche noch unsichtbar. Ich frage mich nur, wo sie selbst ist. Es gibt Menschen, die atmen, obwohl sie gestorben sind. Clarice Lispector ist so ein Mensch. Vielleicht liegt es daran, dass sie schon in der Welt mit der anderen Seite verbunden war. Sie wollte schreiben, was hinter den Worten liegt. Sie war eine Frau, die so tiefen Zugang zu ihrer Innenwelt hatte, dass sie sogar ihren eigenen Tod vorhersah.

An einem drückend heißen Februartag 1977 gibt sie ihr einziges TV-Interview. Sie sitzt auf einem abgewetzten Ledersessel. In ihrer rechten Hand, die sie bei einem Wohnungsbrand fast verloren hätte, hält sie eine Zigarette. Ihr durchdringender Blick ist legendär. "Aber wenn Sie an etwas Neuem schreiben, werden Sie dann nicht wiedergeboren und erneuern sich?", fragt der Interviewer. "Also" (sie atmet tief durch und schaut ihm in die Augen), "jetzt bin ich gestorben. Wir werden sehen, ob ich wiedergeboren werde. Einstweilen bin ich tot. Ich spreche aus meinem Grab." Nur Monate später, am 9. Dezember 1977, einen Tag vor ihrem 57. Geburtstag, stirbt sie.

Das erste Mal begegnete ich Clarice, wie sie in Brasilien genannt wird, 2003. Ich arbeitete an einem Buch über Brasília und fand nur Architekturbände über die Stadt, perfekt ausgeleuchtete weiße Monolithe im roten Sand. Niemand schrieb, wie verloren man sich in Brasília fühlte, wie erhaben und frei. Eine Freundin drückte mir einen zerknitterten Clarice-Text von 1970 in die Hand. Die ersten Kinder von Brasília lasen ihn in der Schule. Es war, als würde man Geträumtes lesen, als würde man selbst träumen beim Lesen. "Wo immer man sich befindet, können Kinder fallen, auch aus der Welt heraus. Brasília liegt am Rand. Würde ich hier leben, ich ließe mein Haar bis zum Boden wachsen", stand da. Wer war diese Frau, von der es hieß, sie habe ausgesehen, wie Marlene Dietrich und geschrieben wie Virginia Woolf?

Bis heute lässt sich diese Frage nicht beantworten. Das Geheimnis zählt zu ihrem tiefsten Wesen, das Geheimnis macht sie lebendig - und es wird am Leben gehalten. In Copacabana gibt es eine Frau, ein Medium, die Kontakt zu Clarice aufnimmt, wenn man das wünscht. Clarice antwortet auch. Das ist ein völlig natürlicher Vorgang in Brasilien. Die "Sphinx von Rio" nannte man sie, und nachdem Clarice auf einer Reise nach Ägypten die Gelegenheit bekam, der Sphinx höchstpersönlich in die Augen zu schauen, meinte sie: "Ich habe sie nicht entziffern können. Aber sie mich auch nicht."

Das Geheimnis beginnt mit ihrer Geburt im Jahr 1920. Die Familie lebt in einem armen verwahrlosten Dorf in der Ukraine, das von den Judenpogromen heimgesucht wird. Clarice' Mutter wird von Soldaten vergewaltigt, die sie mit Syphilis infizieren. Die Geburt eines Kindes soll sie einem alten Volksglauben nach heilen. Chaya, auf Hebräisch "Leben", kommt in die Welt, um ihrer Mutter das Leben zu retten. Die Familie flüchtet vor den Grausamkeiten nach Brasilien, dort wird das Baby in Clarice umgetauft. Das Kind verkleidet sich als Rose, gibt den Kacheln in der Dusche Namen, erzählt seiner Mutter magische Geschichten, an deren Ende sie wie durch ein Wunder geheilt wird. Die Mutter stirbt, als Clarice neun Jahre alt ist. Aus dem Mädchen wird eine Schriftstellerin, die bereits mit ihrem ersten Roman Nahe dem wilden Herzen die brasilianische Literatur revolutioniert, eine rebellische Diplomatengattin, eine mondäne Schönheit, die Chanel-Kostüme trägt und Tipps für die Zubereitung einer guten Mayonnaise gibt.

Vorab aber wird aus ihr eine Mystikerin, die nicht aufhört, hinter den Worten den Gott zu suchen, der sie verlassen hat. Das Sterben, das Mysterium der Geburt, das Leid, das Schuldigfühlen am Martyrium der Mutter, die Suche nach Licht ziehen sich durch ihr ganzes Werk. Am radikalsten wird diese in ihrem Buch Die Passion nach G. H. verwirklicht.

Im Frühjahr 2012 machte ich in Rio die letzten Korrekturen an meinem Roman Mal Aria, der aus der Sicht eine Mücke erzählt wird, als eine Freundin auf mich zukam: "Weißt du denn, dass Clarice einen Roman geschrieben hat, der aus der Sicht einer Kakerlake erzählt wird?" Das stimmte dann zwar nicht, doch ging es auch hier um die Begegnung einer Frau mit einem Insekt. Die Beziehung von Lispector zu Tieren, zum Unbekannten, war immer existenziell. Sie reichte von Hühnern über Pferden vor allem zu Hunden (gut möglich, dass sie als Hund wiedergeboren wurde) und machte vor Kakerlaken nicht halt. In dieser Verbindung zum Tier ging es nicht darum, dass wir Menschen das Wilde noch in uns tragen, sondern darum, dass unser Denken nicht über dem Fühlen steht, wo jenes die Grundlage von allem ist. "Die Kakerlake sah mich nicht mit den Augen, sondern mit dem Körper", schreibt Clarice in Die Passion nach G. H. Und dieser Körper war kein anderer als ihrer. Sie begreift, dass der Eiter, der aus der in der Tür eingequetschten Kakerlake fließt, die Substanz, aus der diese im Innersten besteht, dieselbe Substanz ist, aus der sie im Innersten besteht, und dass diese fremde Substanz nicht ihre war, sondern von Gott stammte. Die Erkenntnis, dass das Menschliche nicht menschlich ist, stürzt die Protagonistin in eine innere Katastrophe - die damit endet, dass sie die weiße Masse der Kakerlake in den Mund nimmt.

Auf einen Zettel, den man erst nach ihrem Tod fand, hatte sie gekritzelt: "Eine Frage aus meiner Kindheit, die ich mir erst jetzt beantworte. Sind Steine gemacht oder geboren? Antwort: Steine sind." Woher kommen diese Sätze? Lispectors Texte zu lesen ist eine stille Ekstase, die den Grund der Dinge berührt. Ihre Romane enden mit Doppelpunkt, werden von Zahnschmerzen der Verfasserin begleitet, führen in so schockartige Tiefe, dass der Leser vergisst, was für eine Geschichte er liest. Clarice führt einen in die Innenräume der eigenen Seele. Die Tür hinter der Tür hinter der Tür. Das erinnert an Kafka, aber wo Kafka sich abschließt, lässt einen Clarice hinein. Und nicht mehr los. Man liest ihre Bücher mit offenem Mund, einem Frösteln, einer Wärme im Bauch. Weil sie über Dinge spricht, die wir zutiefst fühlen, aber nicht ausdrücken können. Als hätte sie eine Antenne in unsere verborgensten Winkel. "Die in ihrem Werk entblößte Seele gehört einer einzelnen Frau, doch in ihr entdeckt man die gesamte Spanne der menschlichen Erfahrung", schreibt Benjamin Moser in seiner großartigen Biografie. Clarice Lispector selbst brachte es mit vier Wörtern auf den Punkt: "Ich bin ihr alle."

Wo ist sie also? Moser erzählte mir, in Brasilien hätte man ihn schon einmal mit strahlenden Augen als Reinkarnation von Clarice erkannt. Was alleine daran scheitert, dass Moser zwei Jahre vor ihrem Tod geboren wurde. Im Oktober 1977, acht Monate nach dem Fernsehinterview, muss Lispector ins Krankenhaus eingeliefert werden. Im Taxi bittet sie ihre Freundin: "Tu so, als wenn wir nicht unterwegs ins Krankenhaus wären, und ich bin auch nicht krank, und wir fahren nach Paris", und sie entspinnt eine ihrer wunderbaren Geschichten, mit denen sie schon als Kind ihre Mutter zu heilen versuchte. Sechs Wochen später stirbt sie, die ihr Leben lang das Geheimnis der Geburt ergründete, an Eierstockkrebs im Endstadium.

Aber tot ist sie nicht. Um das zu wissen, brauche ich nur die ersten vier Sätze der Widmung ihres letzten Romans Die Sternstunde zu lesen. "Ich widme also dieses Ding da dem alten Schumann und seiner sanften Clara, die heute schon längst Staub und Asche sind, wir Armen. Ich weihe mich der hochroten Farbe, Scharlach wie mein Blut, das eines Mannes in den besten Jahren, und weihe mich also meinem Blut. Ich weihe mich vor allem den Gnomen, Zwergen, Sylphiden und Nymphen, die mein Leben bevölkern. Ich weihe mich der Sehnsucht nach meiner alten Armut, als alles schlichter und würdiger war und ich noch nie Langusten gegessen hatte." Ich brauche das nur zu lesen, dann ist sie da. Als säße sie mir gegenüber. Sie hat an jenem 9. Dezember 1977 schreibend die Seiten gewechselt, deshalb ist sie nun vielleicht angelangt im Raum hinter den Worten, im bloßen Sein. Für mich ist sie am Leben, weil sie wie jemand schreibt, der am Leben ist - so kompromisslos nah an ihrem wilden Herzen, dass sie das eigene nie verfehlt. Und fast bin ich sicher, dass sie irgendwann auch bei meinem dritten Buch auftauchen wird, durch eine Freundin in Brasilien. Und ansonsten hoffe ich, dass sie damals im Taxi doch bis nach Paris gefahren ist. (Carmen Stephan, DER STANDARD, 4./5./6.1.2014)