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Ein Konsumententraum wird wahr: Die Warenwelt differenziert sich unablässig aus. 

Foto: Reuters (aus dem Buch: "The 1950s Scrapbook", Verlag Cavendish)

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Peter Rosei, geboren 1946 in Wien, Studium der Rechtswissenschaften, seit 1972 als freier Schriftsteller tätig. Werke u. a. "Landstriche" (1972), "Bei schwebendem Verfahren" (1973), "Wer war Edgar Allan?" (1977), "15.000 Seelen" (1985), "Wien, Metropolis" (2005), "Die sog. Unsterblichkeit" (2006), "Das große Töten" (2009), "Geld" (2011).

Foto: Reuters (aus dem Buch: "The 1950s Scrapbook", Verlag Cavendish)

Die Erinnerung verziert das Erinnerte gern mit goldenen Borten. Meine beiden Großmütter konnten sehr gut nähen, stricken, flicken und stopfen, und doch stehen sie, denke ich zurück, scharf umrissen und schmucklos vor mir. Beide waren geprägt von armer Herkunft, von Krieg, Wirtschaftskrise und Geldentwertung. Ihr Einkaufsverhalten war diktiert von strikter Ökonomie: Gekauft wurde nur, was unbedingt gebraucht wurde. Beide hatten nicht gelernt, was, in modernem Sinn, konsumieren heißt. Gegen die damals zugegebenermaßen noch nicht sehr entwickelte Werbung waren sie vollkommen immun.

Konsumieren im heutigen Sinn bedeutet ja nicht nur Bedürfnisse zu befriedigen, Dinge werden auch deshalb gekauft und angeschafft, weil einem das ein gutes Gefühl gibt. Wo kommt dieses Gefühl denn her? Man kann sich dies oder jenes leisten, hat also Macht über Dinge. Oft sind diese Dinge Symbole, ihr Besitz bedeutet zugleich, dass man da oder dort dazugehört – zu einer bestimmten Clique, Gruppe oder Schicht. Der Besitz gewisser Dinge schafft einfach Identität, erhöht das Selbstwertgefühl. Je entfremdeter die Menschen von sich sind, desto lustiger wird einkaufen.

Mit dem Scientismus des 16. Jahrhunderts – Bacon bringt ihn auf die schlüssige Formel: "Wissen ist Macht" – hat unsere Zivilisation die Generalrichtung eingeschlagen, die wir, von etlichen Ausreißern und Umwegen abgesehen, bis heute verfolgen. Beobachtung, Untersuchung, Experiment, kombiniert mit dem induktiven Sinn, der das Erreichte über Thesenbildung ständig ins (noch) Unerreichte auszuweiten und zu übersteigen sucht, haben uns dorthin gebracht, wo wir heute sind. Maßstab aller Dinge ist eine ergebnisorientierte Vernünftigkeit, der, zum Ausgleich, möchte man fast sagen, eine Welt voller Versprechungen gegenübersteht, voller Träume und Luftschlösser, für die man bloß noch den Schlüssel braucht, Geld.

Historischer Überblick: Der Vollständigkeit halber sei die Gegenströmung, die im 19. Jahrhundert mit Dostojewskij, Schopenhauer und Nietzsche aufflackerte, erwähnt, Leute, die von der Vernunft nicht gar so viel hielten, dem unvernünftigen Wollen seinen gewichtigen Platz einräumten. Der Verlauf der Geschichte im 20. Jahrhundert gab ihnen nicht ganz unrecht, wenn auch meist in Form von Katastrophen.

Die zweite große Kraft, die unsere Gegenwart bestimmt und gestaltet, sind die Ideen der Französischen Revolution. Man mag ja darüber streiten, ob der Wohlfahrtsstaat, wie wir ihn jetzt kennen, letztlich Ausfluss christlicher Barmherzigkeitsideale oder doch eher Produkt sozialrevolutionärer Ideen ist: fest steht, dass wir heute ohne die Schubkraft der Französischen Revolution nicht dort stehen würden, wo wir halten oder, besser, treiben, und das meint insbesondere die Vorstellung von der Gleichheit aller Menschen. Erst das Idealbild der Gleichheit schafft die Voraussetzung für den totalen Markt. Nun ist jeder angesprochen und ansprechbar. Erst dadurch wird die Grundlage für ein Vehikel geschaffen, das ungefähr so funktioniert: Weil du Arbeit hast (oder zumindest Mindestsicherung), verfügst du über Geld, das du auf dem Markt ausgeben kannst, für Waren, die – ob du sie nun brauchst oder nicht – produziert werden müssen, damit du (und deinesgleichen) Arbeit haben.

Natürlich ist der totale Markt hierarchisiert – wie ja auch die Verteilung der Vermögen, des Geldes, eine ungleiche ist. Über die Diversifizierung des Marktes, Spiegelbild der Ungleichheit, wird der totale Markt effektiv. Das ist der Trick: Der Markt kann sich unendlich ausfalten, kann sich an jede Form und Nische der sozialen Plastik anschmiegen: Ungleichheit – bei gleichzeitiger Proklamation von Gleichheit – erzeugt Dynamik und den Raum für Wünsche: Irgendwann, ja, irgendwann werden alle alles konsumieren können, der eschatologische Moment der Erfüllung wird kommen, die im Materiellen sich einlösende Parusie.

Das Kreislaufmodell Arbeit – Ware – Markt – Konsum – Arbeit wird eben erst durch Ungleichheit so richtig dynamisch. Schmiermittel des Ablaufs ist die Werbung, die sich über die elektronischen Medien perfektioniert. Nun ist sie, erlöst von der Anonymität der Straße, in unsere Wohn- und Schlafzimmer vorgedrungen, über Handy und Internet sind wir auch im Regenwald, auf der Spitze des Everest oder tausend Meter unter dem Meer noch erreichbar.

Höre ich von der Auflösung, ja, von der Auslöschung des Subjekts im Spätkapitalismus reden, finde ich das tendenziell zutreffend – doch der Ton, in dem das meist vorgetragen wird, gefällt mir nicht. Subjektverlust – beinah kommt das chic herüber, als Beweis des Modern-Seins, und ist doch nur affirmativ. Räumen wir ein, dass die Bewusstseinsinhalte – eben die durch die Köpfe durchströmende Information (was man früher Welt genannt hätte) – zunehmender Standardisierung durch Markt, Medien und Werbung unterliegen, bleibt doch immer der Modus der Verarbeitung als das je Eigene. Dort, in der Art und Weise, wie ich fühle, denke, erinnere und handle, bleibt doch immer noch etwas, das würdig ist, Ich genannt zu werden. Freilich ist die Wissenschaft, die Wissenschaftsreligion, möchte ich sagen, dabei, auch die Modi noch in den Griff zu bekommen – also: Fühlen, Denken, Erinnern etc. als neurale Vorgänge erst zu erforschen und technisch manipulierbar zu machen. Die "soft sciences", die sogenannten Geisteswissenschaften, degenerieren zugleich in Richtung eines gehobenen, zahnlosen Feuilletonismus, der Satz von Hobbes vom Denken als Rechnen – jetzt ist er dabei, tatsächlich wahr zu werden.

Bei Pascal etwa heißt es noch: "Die Rechenmaschine zeigt Wirkungen, die dem Denken näher kommen als alles, was Tiere vollbringen; aber keine, von denen man sagen muss, dass sie Willen habe wie die Tiere." – Ach, wenn man doch wissen könnte, wie Wollen funktioniert! Man könnte es simulieren! (Wie lang ist das her – mit Pascal.)

Hätten die Menschen einen Planeten von, sagen wir, zehnfacher Größe zur Verfügung, könnte, was gern als friedlicher Konsumerismus propagiert wird, sich wohl noch weiter ausbreiten und florieren. (Das Friedliche an Markt und Konsum, im Übrigen ist das Schimäre. Die Ausbeutung funktioniert nun nicht mehr – zumindest nicht ganz offensichtlich – über militärische Macht und Eroberung von Territorien, sie funktioniert über Deutungsmacht: Wer ein geglücktes Leben über Besitz und Konsum definiert und erreichen kann, dass die Große Zahl darüber verfügt, hat sie.)

Leider ist die Erde zu klein, sie kann, rein stofflich, die Voraussetzungen für eine flächendeckende Installierung des totalen Marktes nicht bieten. Erfindergeist, gepaart mit der Entschlossenheit, dem Funktionieren des Marktes alles andere unterzuordnen, kann freilich das absehbare Ende hinauszögern. Ich will mich hier nicht groß aufhalten bei vom Fracking verwüsteten Landstrichen, bei vergifteten Flüssen, mit Windrädern und Hochspannungsleitungen vollgestellten Gegenden, bei Bauern, die irgendwo in Indien, in China einfach enteignet und abgesiedelt werden, wenn unter ihren Feldern Bodenschätze liegen, bei Atomkatastrophen et al. – Das Modell der ewigen Zuwächse: Wer glaubt denn noch daran?

Friedliche (besser: scheinfriedliche) Gesellschaften sind basiert auf Bedürfnisbefriedigung und Aufschwung. Zwischen Krieg und Wiederaufbau arbeitet sich das ab, weil die aus welchen Gründen auch immer zu kurz Gekommenen ihren Anteil reklamieren. Das "Noch nicht" schenkt eben die Perspektive. Die sogenannte Natur stellt das Spielmaterial bei.

Frieden über Konsum zu erkaufen ist eingeführte Praxis. Für gewöhnlich kommt es zum Krach, wenn die grundlegenden Bedürfnisse der Großen Zahl nicht abgedeckt werden können bzw. wenn die Große Zahl sich vor die Aussicht gestellt sieht, auch durch noch so harte Arbeit am Status nichts ändern zu können. Kaufe jetzt – zahle später: ein Ausweg, der auch einmal an sein Ende kommt, wie wir wissen. Leben auf Pump: Unser größter Gläubiger ist einerseits die natürliche Ressource, und dann, was die G-8 angeht, sind es die Völker der Schwellen- und Entwicklungsländer, doch auch dort beginnt sich das Zeitfenster zu schließen: Man hat schließlich lang genug zugeschaut und gelernt.

Zirkuläre Käfige: 1.) Arbeit schafft Güter, die als Waren konsumiert werden müssen, damit wieder Arbeit geschaffen wird und damit Konsum ermöglicht. An welcher Stelle soll nun der Ausbruch erfolgen? Weniger Waren heißt weniger Konsum und also Unfrieden. Weniger Konsum heißt weniger Arbeit und also auch Unfrieden.

Es ist leicht einzusehen: Hat man sich einmal in eine solche Zwickmühle manövriert, wird man versuchen – was sollte man sonst auch tun? -, einfach weiterzumachen wie bisher. 2.) Entfremdetes Leben wird sinnhaft im Traumland des Konsums, der mit entfremdeter Arbeit erkauft werden muss. Wer einmal das eigene Leben aufgab, sein Glück im Fremd-Sein erfuhr, wie sollte der zurückwollen in einen Status, der ihm, vorbuchstabiert von Werbung, Medien und schließlich auch von sich selbst, nur als Abstieg vorkommen kann?

Zusätzliches Problemfeld: Unser Kalkül basiert auf der Unerschöpflichkeit der Ressourcen. Aber das sind sie nicht. Zuletzt hilft alles Rechnen nichts. Weiß Gott, wie das noch ausgehen wird! Vielleicht erkämpfen wir uns doch eine schöne neue Welt (nach Huxley)? Vielleicht reicht's aber doch nicht? Bei der Annahme wäre es klug und geboten, die Perspektiven und Zielbilder zu verändern. The wrong message at the wrong time? (Place does not count anymore.) Wir, d. h. die Menschen, müssen uns neu erfinden, müssen uns neu aufstellen, das neu Verfasste lernen und sozial üben.

Unsere Art ist durchaus dazu imstande, wie die Geschichte zeigt. Schwierigkeiten der Umstellung, des persönlich wie gesellschaftlich notwendigen Umbaus sollten uns da nicht schrecken, hätten wir doch ein Ziel. Einmal geht's noch – unter dieser Devise sind wir, angeleitet von den Eliten, vielleicht schon zu oft angetreten. Es ist wie mit einer Schraube, die man immer mehr anzieht: Irgendwann ist sie abgedreht. Machen wir einfach weiter, wird die Tragödie zur Travestie – mit echten Opfern allerdings. Ein Kasperltheater der Grausamkeit. Selten so gelacht! (Peter Rosei, Album, DER STANDARD, 4./5./6.1.2014)