Olaf Geramanis lehrt an der Fachhochschule Nordwestschweiz für Arbeit und Soziales, wo er seit 2004 als Dozent für Sozialpsychologie und Beratung tätig ist. www.gruppendynamik.ch

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STANDARD: Herr Geramanis, wo liegt der Irrtum der landläufigen Vorstellung von Motivation?

Geramanis: In der Tatsache, dass sie überwiegend die Qualität von "Sei-spontan-Paradoxien" haben. Es sind "Double-Binds". Der Begriff kommt aus der Familientherapie und bezeichnet Kommunikationsformen, die in einem Rahmen stattfinden, der durch enge Bindung und hohe Anspannung gekennzeichnet ist, weil über allem die Angst vor "Straferwartung" schwebt. Infolgedessen ist das Ziel der Betroffenen die Vermeidung von Strafe. Das Fatale daran ist: Obwohl es wie eine Einladung zu Spontaneität und Freiwilligkeit aussieht, ahnt man unterschwellig einen unausgesprochenen Subtext. Die eigene Unüberlegtheit wäre dann das Falscheste, was man tun kann. Diesen Sachverhalt finden wir nicht nur innerhalb von Familien, sondern eins zu eins bei Motivationssprüchen in Organisationen.

STANDARD: Haben Sie Beispiele?

Geramanis: Der Organisationspsychologe Oswald Neuberger nennt fünf solcher Double-Binds, inklusive ihrer unausgesprochenen Warnungen: Du sollst kommunizieren - aber in bestimmten Momenten nicht! Man darf Fehler machen - aber sie schaden der Karriere! Du sollst im Team arbeiten - aber entlohnt wirst du individuell! Du sollst vertrauen und informieren - aber keine schlechten Nachrichten nach oben melden! Du sollst Konflikte austragen - aber nicht mit deinem Chef! Das Dilemma ist klar: Auf welche Seite der Botschaft man auch reagiert, man kann es nur falsch machen. Derartige Pseudomotivationen zielen auf wünschenswertes individuelles Verhalten ab, das alles andere als spontan sein kann, weil es vor allem in einem erwarteten Sinn richtig sein muss.

STANDARD: Der verkannte Irrtum in Sachen Motivation ist demzufolge?

Geramanis: Die Verwechselung von Double-Bind-Kommunikation mit Motivation. Führungskräfte versuchen, das Dilemma zwischen dem, was sie sagen, und dem, was sie meinen, unsichtbar zu machen und etablieren dadurch eine Vermeidungs- und Misstrauenskultur. Mit dieser paradoxen Kommunikation wird das genaue Gegenteil von dem eigentlich Bezweckten erreicht. Wird Mitarbeitermotivation mit Hochglanzparolen und Manipulation verwechselt, muss damit gerechnet werden, dass die so Angesprochenen ihrerseits mit Ambivalenz und Beliebigkeit reagieren.

STANDARD: Womit die umlaufenden Vorstellungen von Motivation als nicht zielführend entlarvt sind?

Geramanis: Der Irrtum liegt in Folgendem: In der Alltagspsychologie finden wir Sätze wie: Mit Motivation geht alles! Es gibt nichts Gutes, es sei denn, man tut es! All dies macht uns glauben, wir brauchen einfach nur einen ersten kleinen Anstoß, um in neue, unter Führungsgesichtspunkten wirkungsvollere Verhaltensweisen aufzubrechen, und ab dann geht alles von ganz allein.

Die Psychologie sagt etwas anderes. Ihr zufolge ist die Mehrheit der Menschen, insbesondere in Risikosituationen, nicht veränderungsbereit. Vielmehr zielt das Risikoverhalten darauf ab, die bestehende Situation zu stabilisieren, anstatt sie zu verändern. Hinzu kommt, dass Menschen dazu neigen, Entscheidungen länger aufzuschieben, als es sinnvoll ist; mehr Information zu verlangen, als sie eigentlich brauchen, um loszulegen; allererste Vorkommnisse für bare Münze zu nehmen, entsprechende Vorurteile ausbilden und sich dagegen zu wehren, diese Vorurteile zu ändern. Bildlich bleiben Menschen auf dem ersten erklommenen Hügel sitzen und lehnen es ab, sich zu bewegen, obwohl naheliegende andere Hügel höher sind und eine bessere "Aussicht" versprechen.

STANDARD: Wie kommt tatsächliche Motivation zustande?

Geramanis: Hier klärt man am besten drei Fragen: 1. Worin besteht das Ziel? 2. Bin ich fähig dazu? 3. Treibt es mich wirklich an? Ein motivierendes Ziel zeichnet sich erstens dadurch aus, dass es positiv formuliert und so attraktiv ist, dass ich mich ihm immer weiter annähern will. Zum Beispiel: "Ich will mich in Sitzungen aktiv einbringen." Stattdessen werden viele Ziele als Vermeidungsziele definiert: "Ich will in Sitzungen nicht mehr passiv sein." Die Dynamik, die sich aus diesen Zielformulierungen ergibt, ist nicht zu unterschätzen. In Bezug auf ein negatives Ziel wird meine Vermeidungstendenz umso stärker, je näher ich diesem negativen Ziel komme. Stattdessen wird bei einem positiv formulierten Ziel die Annäherungstendenz umso stärker, je näher ich diesem positiven Ziel komme. Also wenn ich mich durchringe, überhaupt etwas zu sagen, habe ich bereits den ersten Schritt zum Erfolg gemacht. Fazit: Nicht "wovon will ich weg", sondern "wo will ich hin".

STANDARD: Und "Bin ich fähig dazu?" bedeutet was?

Geramanis: Dass die Zielerreichung vor allem durch mich selbst bewerkstelligt werden muss. Das heißt, es muss unter meiner eigenen Kontrolle sein, ich muss es aufgrund meiner Fähigkeiten, meines Könnens, meiner Ressourcen selbst schaffen. Schließlich kann mein Ziel nicht davon abhängen, dass irgendetwas anderes oder irgendjemand anderer sich ändert oder sich zuerst ändert. Das von Vorgesetzten gern geäußerte Ziel "Ich möchte, dass in Sitzungen Dinge offen ausgesprochen werden!" ist nichts weiter als ein Appell, den man genauso gut auch überhören kann. Der Satz: "Ich möchte beim nächsten Mal selbst die heißen Eisen ansprechen!" hört sich doch ganz anders an. Bei diesem Kriterium geht um eine realistische Selbsteinschätzung zwischen oft unbewussten Allmachtsfantasien, andere steuern zu können, und erlernter Hilflosigkeit, es sich selbst doch nicht zuzutrauen.

STANDARD: Und welcher Gedanke steht hinter der dritten Frage nach dem Antrieb?

Geramanis: Der nach der Triebfeder meines Handelns. Damit bekommt die Motivation etwas körperlich Unwillkürliches. Dahinter steht das Konzept der "somatischen Marker" des Neurowissenschafters Antonio Damasio. Unser Körper reagiert unwillkürlich mit einer spontanen, bewertenden körperlichen Reaktion, einem somatischen Marker, der signalisiert, ob wir eine Situation als "gut" und somit anstrebenswert oder als "schlecht" und somit als zu vermeidend einschätzen.

Somatische Marker allein reichen für die meisten Entscheidungen zwar nicht aus, dennoch unterstützen Körperempfindungen und Emotionen die rationalen Entscheidungen, ja ermöglichen sie mitunter erst. Konkret kann das recht unterschiedliche Formen annehmen. Bei der Nennung eines unattraktiven Ziels läuft es uns kalt den Rücken runter, ganz gleich, für wie vernünftig wir das Ziel halten. Wohingegen bei "attraktiven" Zielen Freude und ein spontanes, hervorbrechendes Lächeln auftreten. Die psychologische Forschung zeigt: Ziele, die unter meiner Kontrolle sind und sich stimmig anfühlen, führen häufiger zum Erfolg.

STANDARD: Womit das Geheimnis der intrinsischen Motivation gelüftet ist?

Geramanis: Motivation ist kein stabiler Zustand, sondern eine Triebfeder. Sie hält den Motor zwar am Laufen, muss aber bildlich gesprochen immer wieder aufgezogen werden. Hier verdanken wir der Hirnforschung aufschlussreiche Hinweise. Sie besagen: Alle Veränderungs- und Lernleistungen haben eines gemeinsam, sie beruhen auf erfahrungsabhängigen Veränderungen im Gehirn.

Lernen besteht in der Verstärkung synaptischer Verbindungen zwischen Neuronen. Wenn wir uns ein neues Ziel gesteckt haben, müssen wir uns dies wie einen schmalen neuronalen Trampelpfad vorstellen. Wohingegen sich bei uns in Jahren und Jahrzehnten breite Autobahnen mit meist automatisch ablaufenden Routinereaktionen herausgebildet haben, die primär unser Handeln steuern. Die Frage ist, wie auf unserem Weg zum Ziel diese neuen und erst schwach ausgebildeten "Lösungstrampelpfade" gestärkt werden können. Also wenn mein Ziel lautet, mich in Sitzungen aktiver einzubringen, werde ich unter zwei Bedingungen dazu eine reelle Chance haben: Ich muss die neue Aktivität häufig und ich muss sie einigermaßen erfolgreich ausführen. Meine Motivation bleibt erhalten, solange ich gute Realisierungschancen vorfinde oder mir selbst schaffe und positiv verstärkt werde.

STANDARD: Was lernen Führungskräfte aus Ihren Erläuterungen?

Geramanis: Irrtümlicherweise wird von Vorgesetzten unter Motivation verstanden, dass die "Motivierten" das Sollen freiwillig wollen sollen. Das Prinzip der Fremdmotivation durch individuelle Belohnung ist jedoch nichts anderes als eine Verhüllung des Drucks zum Erfolg.

Motivationsprobleme durch individuelles Coaching, Karriereanreize und durch Geld lösen zu wollen entkoppelt die Motivation der Personen von deren persönlicher Bindung an andere Menschen oder auch an die Organisation. Insbesondere Leistungsprämien individualisieren radikal, womit deutlich wird, dass die Personen nicht über ihre Bindungen an die Organisation motiviert werden, sondern über den Egoismus, noch mehr für sich selbst gewinnen zu wollen. Hart gesagt sind Anreizsysteme immer Manipulationssysteme, die Mitarbeiter durch Anreize und Boni zu steuern. Womit wir beim Dilemma der Motivation sind: Der Wunsch nach Kontrolle und Kalkulierbarkeit seitens der Vorgesetzten verunmöglicht die Idee der intrinsischen Motivation via Freiwilligkeit und Selbstbestimmung zwingend, weil erst das Fehlen des einen die Bedingung der Möglichkeit des anderen darstellt.

STANDARD: Welchen Schluss müssen Führungskräfte daraus ziehen?

Geramanis: Durch nichts kann ich andere mehr beeinflussen, anregen und überzeugen als durch mein eigenes Verhalten. Und durch nichts kann ich größeren Widerstand auslösen als durch die Erwartung, Unglaubwürdigkeiten als glaubwürdig anzusehen. Letztlich ist das die Schlüsselerkenntnis in Sachen Motivation durch Führung: durch das eigene Verhalten bei den Geführten Selbstmotivation zu ermöglichen. (Hartmut Volk, DER STANDARD, 8./9.2.2014)