"Die Saporoscher (Saporoger) Kosaken schreiben dem türkischen Sultan einen Brief": berühmtes Gemälde des russischen Malers Ilja Repin aus dem Jahr 1891. In der ukrainischen Geschichtsschreibung gelten die Kosaken von Saporoschschja ("Land hinter den Stromschnellen") als Gründer der "Ur-Ukraine" im 17. Jahrhundert. Dieser "Kosakenstaat" konnte sich zwischen den damaligen Großmächten Osteuropas, der Republik Polen-Litauen, dem Osmanischen Reich und dem Russischen Reich, nicht behaupten.

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Die Bilder der nun schon seit über zwei Monaten andauernden Massendemonstrationen in der Ukraine gehen um die Welt. Man fragt sich, woher die Ukrainerinnen und Ukrainer die Kraft für einen zivilgesellschaftlichen Ungehorsam dieses Ausmaßes nehmen, wie ihn Europa seit der Revolution von 1989-1991 nicht mehr erlebt hat. Diese Frage ist umso berechtigter, als die ukrainische Gesellschaft in den Jahrzehnten sowjetischer Herrschaft zerschlagen und atomisiert wurde.

Nun ist die gegenwärtige Massenbewegung nicht die erste in der postsowjetischen Ukraine, sondern sie knüpft an die Orange Revolution vor neun Jahren an. Damit erweitert sich die Fragestellung: Wie ist es zu erklären, dass in der postsowjetischen Ukraine in wenigen Jahren gleich zweimal gesellschaftliche Massenbewegungen auftraten? Politische und soziale Ursachen dafür hätte es in anderen Ländern der Region ebenfalls zur Genüge gegeben.

Eine Wurzel der beiden Massenbewegungen sehe ich im spezifischen historischen Erbe der Westukraine, besonders Galiziens. Die Westukrainer leisten den radikalsten Widerstand, während weite Teile der Bevölkerung im Osten und Süden des Landes, vor allem die älteren Jahrgänge, stärker den sowjetischen Traditionen verhaftet bleiben. Ein Anknüpfungspunkt ist der bewaffnete Widerstand, den die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und die Ukrainische Aufstandsarmee (UPA) gegenüber der sowjetischen Herrschaft leisteten. Der Popularität, die diese Organisationen in der Westukraine genießen, tut die Tatsache wenig Abbruch, dass Teile ihrer Mitglieder mit Nazideutschland kollaborierten und an der Ermordung von Juden und Polen beteiligt waren.

Allerdings wäre es falsch, die Widerstandstraditionen der Westukraine auf diese beiden extremistischen Organisationen zu reduzieren. Im Polen der Zwischenkriegszeit organisierte sich die ukrainische Zivilgesellschaft in liberalen und sozialistischen Parteien, in landwirtschaftlichen Genossenschaften und Frauenvereinen, und in der unierten Kirche - Aktivitäten, die für die Mehrheit der Ukrainer, die in der Sowjetunion lebten, nicht möglich waren.

Diese Traditionen politischer und gesellschaftlicher Mobilisierung gehen zu einem bedeutenden Teil auf die Zeit zurück, als Galizien unter der Herrschaft der Habsburger stand, wo in den letzten Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg ukrainische politische Parteien, Genossenschaften und Vereine und eine nationale Massenbewegung entstanden. Manche Impulse aus Galizien wirkten schon in den beiden ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auf die unter der Herrschaft Russlands stehende Ukraine ein, fassbar etwa in der Person des Historikers Mychajlo Hruschewskyj, der aus Russland stammte und in Lemberg lehrte.

Umstrittene Helden

Die Impulse aus der Westukraine für die Massenbewegungen der Orangen Revolution und der letzten Monate stoßen allerdings an Grenzen. Zu nennen sind der konfessionelle Unterschied zwischen den Ukrainisch-Katholiken und den Ukrainisch-Orthodoxen und die geringe Popularität, die die nationalistischen "Helden" von OUN und UPA und ihr Kampf gegen Polen und Sowjets in der übrigen Ukraine genießen. Welche historischen Traditionen haben mitgewirkt, dass auch die Masse der Ukrainer im Zentrum und nicht wenige in anderen Landesteilen von den beiden Massenbewegungen des letzten Jahrzehnts mit erfasst worden sind?

Hier kommen die Kosaken in den Blick, der zentrale nationale Mythos der Ukrainer, der im ganzen Land verbreitet ist. Die Ideale der ukrainischen Kosaken von Freiheit und Gleichheit, von Ungebundenheit bis zur Anarchie, aber auch die Etablierung eines protonationalen ukrainischen Staates im 17. Jahrhundert durch die Kosaken - dieser Mythos ist in der Volksüberlieferung und in der Hochkultur präsent, etwa in den Werken des Nationaldichters Schewtschenko und Hruschewskyjs. Während die Mehrheit der Russen stärker von den Traditionen des autokratischen Staates geprägt wurde, sind im kollektiven Bewusstsein vieler Ukrainer die kosakischen Ideale verwurzelt. Die Kosakenführer Chmelnytzkyj und Masepa sind ebenso wie Schewtschenko und Hruschewskyj auf Banknoten abgebildet, Kosaken sind auf Bierflaschen, Zigarettenpackungen und Souvenirs allgegenwärtig, die Nationalhymne endet mit den Worten: "Leib und Seele geben wir für unsere Freiheit und wir werden zeigen, Brüder, dass wir eine Kosaken-Nation sind!"

So fließen in der Massenbewegung des Euromaidan westukrainische zivilgesellschaftliche und nationalrevolutionäre Traditionen mit dem Kosakenmythos zusammen. Natürlich reichen solche historischen Erklärungen nicht aus. Mindestens ebenso bedeutsam ist, dass die vorwiegend jungen Menschen, die über Reisen und das Internet mit dem übrigen Europa vernetzt sind, europäische Lebensformen und Wertvorstellungen übernommen haben, die im Widerspruch zur ukrainischen Wirklichkeit stehen. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer hoffen auf Europa - und Europa darf diese Hoffnungen nicht enttäuschen. (Andreas Kappeler, DER STANDARD, 10.2.2014)