Kulturkritik war für die Vertreter der Kritischen Theorie die Königsdisziplin. Herbert Marcuses Aufsatz Über den affirmativen Charakter der Kultur erschien 1937 in der Zeitschrift für Sozialforschung in Paris. Marcuse (1898-1979) setzt sich in dieser folgenreichen Schrift gegen gleich zwei Gegner zur Wehr: Kapitalismus und Faschismus.

Den Parteigängern der bürgerlichen Gesellschaft weist er nach, vom Kulturbegriff einen unlauteren Gebrauch zu machen. Das, was den Menschen Befriedigung verschafft, ist ihnen nicht unmittelbar gegeben.

Die Trennung des Nur-Schönen von der nützlichen Tätigkeit wurde bereits von antiken Philosophen wie Platon gelehrt. Erst in der bürgerlichen Epoche aber verbindet sich mit der Trennung der Sphären eine Neubestimmung ihrer Zwecke. Derjenige Teil, der "Kultur" heißt, muss jetzt für das Allgemeine einstehen.

Die bürgerlichen Individuen verhalten sich zueinander als freie und gleiche. Doch immer dann, wenn sie ihre Lebensnotwendigkeiten besorgen, sticht die Ungleichheit zwischen ihnen frappant ins Auge. Marcuse fasst den Sachverhalt marxistisch zusammen: "Die freie Konkurrenz stellt die Individuen als Käufer und Verkäufer von Arbeitskraft einander gegenüber." Das Leben unter dem Zeichen der Warenform ist ein fremdbestimmtes. Umso hartnäckiger leugnet der Geist seine Unterwerfung unter die Nützlichkeit.

Jeder vernünftige Kulturbegriff müsste eigentlich von der Verflochtenheit des Geistes in die materielle Reproduktion seiner Zeit handeln. In der bürgerlichen Gesellschaft kehrt sich die Argumentation um. "Affirmativ", also herrschaftsbestätigend, wird die Kultur, weil sie die geistig-seelische Welt als ein Reich der Werte von der schnöden Zivilisation einfach ablöst. Praktisch jeder unterliegt den Anforderungen des Daseinskampfes. Wie trefflich erwünscht sind da alle Ablenkungen, die aus dem Reservat der Kultur stammen.

Mit der Verfechtung abstrakter Gleichheit konnte das historische Bürgertum vom Entstehen neuer Klassen von Ausgebeuteten ablenken. Je greifbarer der gesellschaftliche Reichtum, desto übervoller das Bild, das man sich von seelischen Regungen machte. Der erwünschte Überfluss musste von innen kommen. Seelischer Reichtum ist leichter zu verwirklichen, weil er immateriell ist. In das Gefäß der Seele lässt sich hineinpacken, was den Menschen als gut, wahr und schön überliefert ist.

Man könnte mit Marcuse also sagen: Erst durch die Kultur werde der Mensch um die Realisierung seines Glücks geprellt. Als glücklich kann sich preisen, wem durch die Erzeugnisse bürgerlicher Kunst Trost zuteil wird. Verfeinerung des Geschmacks ist Produkt der Gefolgschaft, die man kulturellen Idealen leistet.

Erst in der Kunst kann der Mensch sich glücklich fühlen, auch wenn er es nicht ist. In ästhetischen Erzeugnissen ist die Wahrheit aufgehoben. Wahr bleibt Kunst um den Preis, nicht "aktuell" zu sein. Herbert Marcuses Sorge um die Verkümmerung unserer Genusspotenziale ist aktueller denn je.

Die Reihe mit Klassikern des Denkens wird unregelmäßig fortgesetzt. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 21.2.2014)