Otto Brusatti, Jahrgang 1948, ist Autor, Regisseur und Medienmacher. Er gestaltet für den Radiosender Ö1 im Juni Großsendungen zu dieser Thematik. Im Sommer kommt bei mdv sein neues 1914-Buch mit dem Arbeitstitel "Das Jahr der Behinderten - Eine Novelle im alten Stil" (Illustrationen von Christoph Kiefhaber) heraus.

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Langsam fällt einem der Erste Weltkrieg auf die Nerven. Betulicher, geschichtstümelnder oder larmoyanter Overkill (Pardon), Serien an klugen Publikationen und sehr unklugen Monarchie- und Kaiserhausschwänken, bemühte Zurechtrückungen des Politischen und die zu Recht strenge Kritik an den Franz Josephs und Ferdinands und Conrads und überhaupt an den meisten damals lächerlich werdenden Aggressivkapos.

Wichtig wurden Erkenntnisse: Es waren bloß die vier Trainingsjahre für den Beinaheweltuntergang zwei Dezennien später / die Pädagogik hat bis heute, was diese Nr. 1 betrifft, ziemlich versagt / und (noch baffer vorgetragen) man hat damals nicht wirklich "hingehört". Im todkranken Europa.

Aber heute? In dieser Masse an Fakten- und Gefühlsaufarbeitungen frage ich mich doch glatt und hintergründig: Beachten wenigstens wir stimmige und vorweg Antworten gebende Sensorien? Musik von damals, die um 1913/ 1914. Eine, die perplex macht und sagt: Es musste ja so kommen, dass die Europäer übereinander herfielen wie ausgehungerte Hyänen. Diese Jahre, wo man - künstlerisch, politisch, gesellschaftlich - geradezu in eine Monsteraggression hineingaloppierte. Und die Musi spielte dazu, malte Bilder aus und bewies Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Weiter gefragt: Sollte das mich nicht zum Kotzen oder zum Auslachen bringen?

Alsdann! Zuerst noch mit bekannten Menetekelübungspiecen geprunkt.

Aus der (noch immer) E-Musik wird uns gern analysierend berichtet: Hört euch doch nur etwa Alban Bergs Drei Orchesterstücke op. 6 (ab 1913) an, mit dem Präludium, wo der Krieg herein- und der Tod herausmarschiert, mit einem Totentanz drauf und einem ins Brüllen gehenden Marsch, in dem uns am Schluss eins mit dem Gewalthammer drübergezogen wird, als Zitat aus Mahlers Tragischer.

Oder Orchesterstücke des Anton Webern (op. 10 bis 1913) in erster tatsächlicher Auflösung der seit Jahrhunderten bestehenden Tonalitätssicherheit. Oder gar Arnold Schönbergs Pierrot lunaire op. 21, sein Verzicht auf hohlen, bürgerlichen Halt. Von ähnlichen Verzichten im Strauss'schen Rosenkavalier oder in der posthum bekannt gewordenen IX. Mahlers, den beiden prägendsten Uraufführungen knapp vor dem Ersten Weltkrieg, wollen wir gar nicht reden; von Rilkes Duineser Elegien, ab 1912, wo die Sprache ihre schale, alte Bedeutung verliert, schon überhaupt nicht.

Klar, das sind repräsentative Gemälde gewesen, ohne den Spätromantikkitsch der verklemmten Zeit, Prophetenmacht der Kunst und so halt.

Aber dann, anders weiter, die frischen Jahreshits (die gab es schön langsam in einer unbeschreiblich akzelerierenden U-Musik-Welt):

1911 - "Servus Du" (Stolz/Vigny) "... und eines Tages war es aus ..."; 1913 - "Kinder no net schlafen geh'n" (Frankowski/Mayer) "... mit allen Jungfern bin ich intim ... denn auf an Ban-Fleisch war ich nie a Kren ... Konfession ist mir egal ..."; 1915 - "Das sind die Mädchen von Wien" (Sieczinski) "... die Krieger im Felde, alte und junge, sie kämpfen für Vaterland, Ehre und Ruhm ... bringt Frauengruß ein zärtliches Briefchen ...".

Oder noch anders?

1911 und der bewusste Verlust schützender Ornamente, Adolf Loos: Haus Michaelerplatz 3; 1913 und im Blick imperialer Globalisierung zu Abgründen des Verbotenen, Sigmund Freud: Totem und Tabu; 1915 und ein schreiendes Loch, Kasimir S. Malewitsch: Das schwarze Quadrat.

Die lockeren Lifestyle-Operetten im Lustige Witwe-Sinn als "Dollarprinzessin" oder Geschiedene Frau (wo 1911 erstmals der ungesühnte Ehebruch froh auf der Bühne besungen wird), also der noch allemal wirkungsvollste Fundus für neue U-Musik, verschwanden in den Jahren vor dem Krieg rasant zugunsten von Frauenheroisierungen, historisierenden Klamotten, Kleinbürgerglück oder Nationalschmonzetten. Aber dann, 28./29. Juli 1914? Die Lustspieltheater (in Wien wie in Bad Ischl) behielten aktuelle Musikschwänke im Programm (wo Sonderdrucke der Kaiserproklamation An meine Völker drangehängt wurden). Übrigens (quasi am Rand erzählt, weil sich bis heute die üble Meinung hält, in diesem Sommer wären ein Spaziergangkrieg gegen Serbien und vielleicht noch Scharmützel im Osten und im Westen zum Dampfablassen und zur Situationsbereinigung vorgesehen gewesen) in den halbwegs vernünftig gebliebenen Zeitungen wurde - zwischen Vergnügungsannoncen und rapide anwachsenden Kriegsversicherungswerbungen - bereits voll cool darüber diskutiert, ob die ganze Chose nicht sowieso sich zum "Weltkrieg" (sic) ausweiten müsste, ja müsse! Und nochmals übrigens, als man in den Tagen vor den ersten Kriegserklärungen hoffend mit einem "Welt"-Krieg spekulierte, war die Operette Endlich allein von Franz Lehár der Renner mit dem Hit der ersten Version von "Schön ist die Welt".

Um und nach 1914, wenige der Träger von Literatur und Musik verschonten sich, ihre Seelen und den Anstand und stimmten in die Kriegsgier ein. Nicht nur Hofmannsthal oder Kuh, Polgar oder Zweig begeilten sich am Möglichen. Die Stars der neuen Unterhaltungsbühne selbst (Lehár, Eysler, Granichstaedten, Nedbal, Weinberger) waren noch eifriger und verfassten z. B. 1914 gemeinsam Der Kriegsberichterstatter, 8 bunte Bilder. Andere Meister des Tages wie Stolz, Frankowski, Ziehrer oder Domanig ließen, nicht faul, Umtextungen und Arrangements ihrer Hits zu Kriegsmusik und Kriegshetze sogar gern zu. Schon im Oktober 1914 transferierte Kálmán seinen Reißer vom "Guten Kameraden" in ein "Gold gab ich für Eisen". (Es gibt Dokumentationen zu alldem durch Institute der Wiener Musikuniversität oder seitens des Wiener Volksliedwerks.) Die Musikreaktionen auf das Zeitgeschehen ähnelten jedenfalls Franz-Antel-Filmklamotten Jahrzehnte später.

Paradigmatisch jubelnd war Julius Korngold (Neue Freie Presse, schon 1914): "Die Musik hat ihre schönste Dienstpflicht voll begriffen."

Das ist nachlesbar. Sensationell sind andere aktuelle Aufarbeitungen.

Streng im Marschtakte jetzt.

Wissen Sie, was "Phonola" ist? Dieses privat wie öffentlich zu nutzende Klavierspielinstrument mit Papierlochstreifen war bis in die 1920er hinein, in einem gewaltigeren Ausmaß als kürzlich noch bekannt, die prägende Musikvermittlungsmaschine und ein Propagandamittel schlechthin. Nachdem man zunächst noch mit Strauss oder Wagner-Adepten, mit Virtuosen- und (sogar globaler) Tanzmusik reüssiert hatte, stieg diese Musikindustrie voll in die nationalistische Kriegsantreibung ein. Wieder waren es die U-Musik-Stars, die mit eigenen Werken selbstspielend oder fremdarrangiert feine Geschäfte machten. (Im Lauf dieses Jahres noch werden im Wiener CD-Label Phonolamusic spannende Dokumente erscheinen.)

Es entstand so im Weltkrieg neben den Schellack-Musikideologie-Ausschüttungen eine Massenindoktrinierung. Ab wann wurde die vorbereitet? Seit Jahren? Märsche für daheim, schlimme "patriotische Musik", Konzertprogramme für Frontfilme in Riesenräumen.

Da frage ich mich, gar nicht sarkastisch, sondern beklommen: Waren das die wahren Zeichen kollektiven Irrewerdens? Eine selbstmörderische Wartestellung im Klangbad, in der Hoffnung auf irgendwelche "Reinigungen", "Befreiungen"? Selbst die eingangs genannten Tonpropheten verblüffen sprachlich. Berg (Ende 1914): "Der Krieg muß noch weitergehen. Noch ist keine Spur von Reinheit von diesem jahrzehntealten Dreck." Webern (vor Kriegsbeginn): "Ich erflehe vom Himmel den Sieg unserer u. der deutschen Armee. Es ist ja ausgeschlossen, daß das deutsche Reich u. wir mit ihm zu Grunde gehen sollen. Es ist in mir ein unerschütterlicher Glaube erwacht an den deutschen Geist, der ja fast ausschließlich die menschliche Kultur geschaffen hat. (...) Es ist der Kampf der Engeln mit den Teufeln." Musikpapst Guido Adler (noch 1917): "Der Krieg ist die Möglichkeit einer Reinigung."

Also frage ich mich weiter, 2014, ironisch geworden. Übersehen/überhören wir was? Oder hat dieses auffallende Manko an nacherlebbarer neuer Musik heute gar was mit einem anstehenden Superfrieden zu tun? Der beruhigende Hit heißt zudem und aktuell: "Hansi Hinterseer: Heut' ist Dein Tag".

Nachdem man zunächst noch mit Strauss, Wagner-Adepten oder Tanzmusik reüssiert hatte, stieg die Musikindustrie voll in die nationalistische Kriegsantreibung ein. (Otto Brusatti, Album, DER STANDARD, 22.2.2014)