Für die Lesbarkeit von Städten besitzt Claude Simon ein feines Gespür. In dem Roman Der Zeitplan (1956) zwingt Butor den Leser förmlich, eine Industriestadt im Norden Großbritanniens zu "besiedeln".

Der Romanheld, ein junger Franzose, geht mit der fiktiven Stadt Bleston ein Bündnis auf Zeit ein. Indem Butor, Autor des "nouveau roman", den Leser bei der Hand nimmt, entwirft er den imaginären Lageplan des Ortes. Bleston besitzt die Anziehungskraft eines finsteren Sterns. Es ist nicht verwunderlich, dass Importkaufmann Revel in ein mysteriöses Geschehen verwickelt wird, das seinen Ursprung in der Stadt hat.

Von den rußgeschwärzten Fassaden geht der Eindruck der Unbehaglichkeit aus. Es scheint, als ob Butor die Stadt Bleston zum heimlichen Subjekt seines Buches erkoren hätte. Das Scheitern Revels (er kommt immerhin mit heiler Haut davon) hat mit dem Dilemma der Leserlichkeit zu tun.

Städte entfalten sich als mehr oder minder klar artikulierte Texte. Jede Stadt lädt denjenigen, der sie betritt, um ihre Strukturen zu benützen, zur Lektüre ein. Was jeder Leser eines Verkehrsschildes bestätigen wird. Da man Metropolen wie Tokio, New York, Paris oder Mexiko-Stadt kaum unvorbereitet betritt, wird dem "lokalen" Text ein Kommentar angehängt, sobald man einen "Führer" konsultiert.

Zu den Wörtern der Weltsprachen gesellen sich zahllose Signale und Anhaltspunkte. Wer eine Stadt "liest", wird fasziniert erkennen, wie die Teile einer Siedlung einander dabei helfen, alles Wesentliche zu bezeichen.

Butors Essay Die Stadt als Text (1992) erklärt das Verhalten von Städtebewohnern, kehrt aber Ursache und Wirkung um. Es sind nicht die Menschen, die sich gemeinsam niederlassen, um miteinander Texte abzufassen. Der Text bildet vielmehr den Kern jedes Ballungsraumes. Die Stadt als Buch, schreibt Butor, "ist zunächst Tempel". Im Allerheiligsten ragt die Stele des Tempels auf. Allein hier ist der Ort des Urtextes zu suchen. Die Stadt entsteht, weil sich rund um den Tempel die Widersprüche, die der Polytheismus aufwirft, frei entwickeln. Stadtmauern bilden somit Tabernakelwände. Zugleich dulden die wachsenden Großsiedlungen innerhalb der Befestigungsanlagen das Entstehen "fremder" Niederlassungen.

Die Städte nicht nur des ausgehenden 20. Jahrhunderts sind Halden voller Spiegelscherben. In den Abfall der Nahversorgung mischt sich der Staub zerbrochener Gesetzestafeln. Die Menschen werden, ob willentlich oder nicht, zu Nomaden. Die alten Machtzentren "verslummen" oder machen touristischen Zonen Platz.

Butor besaß vor 20 Jahren eine Intuition. Er wusste noch nichts vom "World Wide Web". Er schrieb aber vom Garten einer "universalen Urbanität". (Ronald Pohl, DER STANDARD, 18.3.2014)