Othmar Karas: Schulz ist oft ein Polarisierer. Er spitzt zu, hat ein Anliegen, für das er kämpft. Das gefällt mir.

Martin Schulz: Juncker fährt jetzt eine Strategie, dass er ja eigentlich ein Sozi ist. Das ist unglaubwürdig.



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Die EU-Wahl wird zu einem echten Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der Europäischen Volkspartei und den Sozialdemokraten. Zumindest darin sind sich Othmar Karas und Martin Schulz einig. Im Gespräch mit Thomas Mayer debattieren sie über Wahlkampf, Pläne für die künftige Kommission und die Bedeutung der Wahl für die Demokratisierung der Union.

STANDARD: Meine Herren, bevor Sie einander in die Haare geraten, zuerst zum Positiven: Was schätzen Sie an Ihrem Gegenüber eigentlich am meisten?

Karas: Handschlagqualität.

Schulz: Charakterfestigkeit.

STANDARD: Nur ein Wort?

Schulz: Othmar Karas ist ein Mann voller Überzeugungen, für die er einsteht. Im Streit muss er dafür, glaube ich, oft viel einstecken, auch in seiner eigenen Partei. Aber das zeichnet ihn als einen geradlinigen Mann aus.

Karas: Martin Schulz ist oft ein Polarisierer. Das passt manchen nicht. Er spitzt zu. Aber das bedeutet auch, dass er ein Anliegen hat, dass er für etwas kämpft, das gefällt mir. Und er verschafft der europäischen Bürgerkammer in der Öffentlichkeit einen Stellenwert.

STANDARD: Die Europäische Volkspartei scheint das nicht ganz so zu sehen. Die hat gerade sehr persönliche Angriffe auf Martin Schulz als Parlamentspräsidenten gestartet, ihm Vetternwirtschaft vorgeworfen, ihn zum Rücktritt aufgefordert wegen Unvereinbarkeit mit der Kandidatur um das Amt des nächsten EU-Kommissionspräsidenten. Ist das Nervosität wegen schlechter Umfragewerte?

Schulz: Man muss einen Unterschied machen zwischen der EVP und einigen Mitgliedern der CDU/CSU hier im Europaparlament. Bei diesen Anträgen, die mir irgendwelche Machenschaften und rechtswidriges Handeln unterstellten, hat der Vorsitzende der EVP, der auch Fraktionschef ist, dagegengestimmt.

STANDARD: Sie meinen den Franzosen Joseph Daul?

Schulz: Ja. Das zeigt mir, dass die Führung der EVP damit nicht einverstanden ist. Was die Nervosität anlangt, ist das offensichtlich so.

STANDARD: Derzeit beträgt der Abstand zwischen EVP-Fraktion und Sozialdemokraten gut 80 Mandate, die jüngsten Umfragen zeigen, dass es ein Kopf-an-Kopf-Rennen geben könnte um Platz eins und damit um das Recht, den nächsten Kommissionspräsidenten vorzuschlagen. Hat Ihre Parteifamilie so viel Angst, dass Schulz nun persönlich attackiert wird?

Karas: Das glaube ich überhaupt nicht. Das hat nichts mit der Frage der EU-weiten Spitzenkandidaten zu tun. Schulz ist nicht nur Kandidat für das Amt des Kommissionspräsidenten, sondern auch Spitzenkandidat der SPD in Deutschland. Damit ist er in Deutschland der direkte Konkurrent der CDU/CSU bei der Europaparlamentswahl.

STANDARD: Also geht es bei den Angriffen auf ihn eher um innerdeutsche Wahlkampfscharmützel?

Karas: Wir betreten bei dieser EU-Wahl Neuland. Dass ein Parlamentspräsident als Spitzenkandidat auch für den Posten des Kommissionspräsidenten antritt, hat es noch nicht gegeben. Hier werden leider innenpolitische Rituale auf europäischer Ebene aufgeführt. Ich gehe davon aus, dass der Parlamentspräsident sich als Kandidat genauso verhält wie jeder andere Abgeordnete, der Kandidat ist, und dass es zu keiner indirekten Parteienfinanzierung kommt.

STANDARD: Man muss an dieser Stelle sagen, weil Herr Schulz das vielleicht nicht weiß: Sie haben ihn im Interview mit uns vor zwei Wochen diesbezüglich ausdrücklich verteidigt.

Schulz: Das habe ich gesehen, wir lesen den STANDARD hier jeden Tag.

STANDARD: Schön zu hören. Aber zu den Wahllkampfattacken noch einmal: Ist das für Sie auch ein Anzeichen, dass diese Europawahl im Wahlkampf erstmals nicht nur höflich dahinplätschert, sondern dass es hart zur Sache geht wie in innenpolitischen Wahlkämpfen, wenn es um eine Regierung geht?

Karas: Der Wahlkampf rechtfertigt nicht alles, der Zweck heiligt nicht die Mittel. Meine Erfahrung im Gespräch mit den Bürgern ist, dass die Europapolitik dann glaubwürdig ist, wenn man sich in der Sache auseinandersetzt und nicht in persönlichen Unterstellungen. Ich hoffe sehr, dass in diesem Europawahlkampf nicht innenpolitische und innerparteiliche Rituale auf die europäische Ebene übertragen werden. Ich will eine inhaltliche Auseinandersetzung, keine  persönlichen Verletzungen. Es geht um eine Richtungsentscheidung.

STANDARD: Aber harter Wahlkampf wäre doch auch ein Zeichen, dass man das ernst nimmt. In früheren Europawahlen hatte man eher das Gefühl, es gehe lau dahin. Wie sehen Sie das, Herr Schulz?

Schulz: Sie haben immer zwei Ebenen. Die eine ist die der harten Sachauseinandersetzung, wo Argument gegen Argument gesetzt wird, Strategie gegen Strategie, und der Bürger hinterher entscheidet. Und dann gibt es eine zweite Ebene, hinter der eine Diskreditierungsstrategie steckt. Der politische Gegner, der Mitbewerber, soll in seiner persönlichen Glaubwürdigkeit beschädigt werden, um dann zu sagen: So einem kann man ja kein Land anvertrauen. Jeder erfahrene Wahlkämpfer weiß, dass das kommt. Darauf muss man sich einstellen, und da habe ich auch kein Problem damit.

STANDARD: Ist es anders, härter als bei früheren Wahlen?

Schulz: Ich habe das schon erlebt. Neu ist aber, dass es jetzt nicht nur auf der nationalen, sondern auch auf der europäischen Ebene sichtbar wird, weil europäische Kandidaten gegeneinander antreten.

STANDARD: Herr Karas, die Sozialisten holen deutlich auf, die Volksparteien verlieren gemäß Umfragen im Vergleich mit 2009 stark. Das gilt übrigens auch für die Liberalen und die Grünen, die in Straßburg jeweils etwa ein Drittel ihrer Mandate einbüßen könnten, die Rechten gewinnen dazu. Was macht die SP, was macht Herr Schulz besser?

Karas: Gar nichts. Wir haben völlig andere Rahmenbedingungen als im Jahr 2009. Ich gehe davon aus, dass sowohl die ÖVP in Österreich wie die EVP auf Europaebene die Nummer eins werden. Aber es ist richtig, es wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Es gibt viel mehr Bewerber als früher. Die Staatsschuldenkrise und die Arbeitslosigkeit sind noch nicht überwunden. Auch die Situation, dass mit der Europaparlamentswahl zum ersten Mal de facto auch der nächste Kommissionspräsident mitbestimmt wird, ist eine völlig neue. Das ist demokratiepolitisch ganz wichtig. Es europäisiert die Wahlkämpfe. Und es macht deutlich, dass die die EU-Kommission als Regierung dem Europäischen Parlament verantwortlich ist und nicht umgekehrt. Das ist gut für die europäische Demokratie.

STANDARD: Die Frage war, wieso der Wahlkampf für Europas Sozialdemokraten gut zu laufen scheint. Warum ist das so?

Karas: Das sehe ich nicht. Ich teile Schulz' Auffassung, dass die persönlichen Anfeindungen zum Wahlkampf gehören. Trotzdem hoffe ich, die Diskreditierungsebene möge der Vergangenheit angehören. Warum sage ich das? Weil in Europa die Personen wichtiger sind als die Parteien. Mit diesem Politikstil erreicht man nichts in Europa. Im Europaparlament sind es die Personen, die Kompromisse schließen, und nicht die Parteien, weil keine der Parteien dort eine Mehrheit hat, auch nicht haben kann. Das war in der Vergangenheit so und wird auch in der Zukunft so sein. Hier ist Zusammenarbeit gefragt, nicht Polemik.

STANDARD: Kann es sein, dass die europäischen Volksparteien zwei Dinge übersehen haben: dass erstens die soziale Frage das wichtigste Thema in Europa ist und bei den Europawahlen eine entscheidendere Rolle spielt als Sparen und Eurorettung; und dass zweitens nach 20 Jahren mit christdemokratischen Kommissionspräsidenten jetzt vielleicht wieder einmal ein Sozialdemokrat zum Zug kommt, dass die Leute den Wechsel wollen? Der letzte rote Kommissionschef war Jacques Delors bis 1994. Irgendwoher müssen die Wählerbewegungen ja kommen, oder nicht?

Karas: Nein, daran kann es nicht liegen, denn Christdemokratie heißt ökosoziale Marktwirtschaft. Wir haben alles darangesetzt, dass kein Land bankrottgeht. Schulden machen ist das Unsozialste überhaupt. Die größte soziale Gefahr ist, wenn ein Staat bankrottgeht und seine Gemeinwohlaufgaben nicht erfüllen kann. Die EVP will Wachstum und Beschäftigung schaffen. Das geht aber nur, wenn wir gleichzeitig die Haushalte konsolidieren. Die Senkung der Arbeitslosigkeit ist uns ein gleiches Anliegen. Der Weg ist ein unterschiedlicher.

STANDARD: Wie sehen Sie das, Herr Schulz?

Schulz: Die Europäische Volkspartei fängt an, unter einem Phänomen zu leiden, das sie sich selber ins Haus geholt hat. Sie ist eine Dachverbandspartei geworden. Die EVP, die Karas beschreibt, die gibt es tatsächlich. Das sind jene Christsozialen, die in der Tradition der katholischen Soziallehre stehen. Da gehört er dazu, da gehört auch Jean-Claude Juncker dazu ...

STANDARD: Der frühere luxemburgische Ministerpräsident und Eurogruppenchef, Ihr Gegenkandidat im Rennen um das Amt des EU-Kommissionspräsidenten.

Schulz: ... aber es gibt auch eine ganz andere EVP sozusagen. Da gibt es die Marktradikalen, es gibt eine marktliberale EVP, es gibt dort aber auch Rechtskonservative. Der ideologische Widerspruch nimmt zu. Das kann man hier im Parlament gut beobachten. Die politischen Spannungen nehmen zu, so wie die Spannungen in der sozialen Frage auch. Für Karas oder Juncker mag die soziale Frage im Mittelpunkt stehen, das ist auch so. Aber für andere Parteien in der Europäischen Volkspartei gilt das nicht.

Karas: Dass unsere Parteien Juncker und mich zu Spitzenkandidaten gemacht haben, zeigt, wo das starke Herz der Volkspartei liegt. Juncker und ich, wir haben uns nie geändert. Die Entscheidung unserer Parteien für uns war die Richtungsentscheidung.

Schulz: Ich bin damit konfrontiert, dass mir ein Vertreter der christdemokratischen Tradition gegenübersteht, aus der zum Beispiel auch meine Mutter kam.

STANDARD: Was hat sie gemacht?

Schulz: Sie war eine der Mitbegründerinnen der CDU. Da kam die her, das kenne ich sehr gut. Das ist einer der Gründe, warum ich Sozi bin. Das, was die vertreten haben, das wird heute in der Sozialdemokratie hochgehalten. Die Strategie, die Juncker jetzt macht nach dem Motto "Eigentlich bin ich ja auch ein Sozi!", das ist nicht glaubwürdig. Das konnte man auch beim EVP-Nominierungsparteitag in Dublin sehen. Da ist gegen ihn ein sich links gerierender EU-Kommissar Michel Barnier angetreten. Aber gewonnen hat am Ende Juncker, mit der Unterstützung von Silvio Berlusconi, von Viktor Orbán zum Beispiel. Das heißt, Juncker braucht Leute als Unterstützer, die nicht auf der Linie von Othmar Karas sind. Dieser innere Widerspruch, der fällt der EVP in diesem Wahlkampf ein bisschen auf die Füße.

STANDARD: Herr Schulz, wäre Ihnen ein etwas kantigerer, konservativerer Gegner als Spitzenkandidat für das Kommissionspräsidentenamt lieber?

Schulz: Wir sind, auch wenn wir gegeneinander antreten, in einem gut beraten: ein Grundbekenntnis zu haben, dass das Beste, was uns passieren kann, eine demokratievertiefte europäische Integration ist. Deswegen wünsche ich mir keinen christdemokratischen Kandidaten, der irgendwo ausfranst in Richtung Renationalisierung, nicht einmal rhetorisch.

STANDARD: Also ein Gegner vom Typ Orbán wäre unangenehm?

Schulz: Für mich persönlich nicht. Wenn Sie so einen richtigen Hardcorerechten gegenüber haben, dann mobilisiert das das eigene Wählerpotenzial sogar.

STANDARD: Ihnen halten die Gegner vor, dass Sie zuspitzen, brutal sind, laut, die Dinge herausschreien. Ist da etwas dran? Wenn es zum Beispiel darum geht, dass die Jungen Arbeit brauchen: Das lässt sich leicht popularisieren und fordern, aber schwer umsetzen. Was sagen Sie dazu?

Schulz: Ich war siebeneinhalb Jahre Fraktionsvorsitzender. Die Aufgabe des Vorsitzenden ist, die eigene Linie in Abgrenzung zu anderen zu profilieren. Das können Sie nicht durch das Werfen von Wattebäuschchen erreichen. Da muss man schon klare Kante zeigen. Das machen andere Fraktionschefs auch. Dass ich ein ausgesprochen konfrontativer Debattenredner war, ja, das ist so. Ich habe mich als Parlamentspräsident bemüht, mich diesbezüglich etwas zurückzunehmen. Aber ich habe in meinem politischen Leben auch immer zwei Dinge beherzigt, die mir praktisch auf jeder Wahlveranstaltung entgegengehalten werden.

STANDARD: Ihnen als Person?

Schulz: Nein, der Politik generell. Die eine Kritik lautet: Man versteht euch Politiker nicht. Das gilt nicht nur auf der europäischen Ebene, sondern auf der nationalen Ebene auch. Es gibt viele Leute, die mir sagen, pass einmal auf, ich schaue die "Tagesschau", aber ich verstehe nicht, was die da erzählen. Und die zweite Kritik ist: Ihr sagt ja alle das Gleiche, ihr seid alle gleich. Wie begegnet man dieser Gefahr für die Demokratie? Indem man so redet, dass die Leute einen verstehen, ohne gleich Populist zu sein, und indem man sich von anderen Politikern abgrenzt, sodass die Leute eine Auswahl haben. Schauen Sie in Ihre Leserbriefspalten, da können Sie das sehen.

STANDARD: Haben Sie ein konkretes Beispiel?

Schulz: Wenn ich deutsches Fernsehen schaue, da gibt es eine Sendung, die heißt "Börse im Ersten", läuft immer kurz vor der "Tagesschau". Da habe ich oft Schwierigkeiten, das zu verstehen. Da muss man nachhaken. Die Wähler und Wählerinnen, die mich wählen, das sind Leute, die von morgens bis abends schuften. Wenn die nach Hause kommen, dann sind die kaputt, erschöpft. Die lesen dann auch nicht das Feuilleton der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" oder schauen sich den letzten Kurs der NASDAQ an. Was die aber brauchen, ist eine politische Schutzmacht, die ihnen erklärt, welches Programm sie hat, und die das dann umsetzt. Das ist das, was ich mache, das ist meine Aufgabe als Politiker. Gut, als Parlamentspräsident hat man ein paar mehr Ketten um sich herum, die einen dann hindern, so zu reden wie ein Fraktionschef.

STANDARD: Sie scheinen den Sozi im Wahlkampf ganz besonders zu akzentuieren, verzeihen Sie die Formulierung.

Schulz: Nein, nein, ich habe damit kein Problem. Es ist klar, ich weiß, was Sie meinen. Glauben Sie mir eines, ich versuchte immer, so zu bleiben, wie ich bin, egal in welcher Funktion ich war. Ich versuche mich nicht zu verstellen. Vielleicht ist es das, was die Leute spüren.

STANDARD: Sind Sie damit einverstanden, Herr Karas?

Karas: Nein. Ich bin gegen solche Vereinfachungen. Europa besteht nicht aus zwei oder drei politischen Lagern und lauter gleichförmigen Parteisoldaten.

Schulz: Aber ihr habt doch auch ein gemeinsames Programm.

Karas: Ich komme in Österreich aus einer Partei und bringe mich auf der europäischen Ebene als Person in eine Fraktion ein. Die Fraktionen im Europaparlament bestehen aus verschiedenen nationalen Parteien, auch solchen, die nicht Mitglieder der jeweiligen Parteienfamilien auf EU-Ebene sind. Daher ist jede Fraktion heterogen.

Schulz: Das ist bei uns nicht so.

Karas: Bei uns ist es so. Es kommt auch vor, dass Abgeordnete während einer Legislaturperiode die Fraktion wechseln. Das ist auch bei der SP so. Es gibt auch keinen Klubzwang. Wir Abgeordneten stimmen quer durch die Fraktionen und Staaten, sehr stark nach den persönlichen Einstellungen ab.

STANDARD: Aber es scheint so, dass das Abdriften bei der EVP derzeit stark ausgeprägt ist. In vielen einzelnen Staaten haben konservative Parteien Probleme, was auch erklärt, warum dort Rechtsparteien bis hin zu Rechtsextremen stärker werden. Sehen Sie das nicht so?

Karas: Noch einmal: So funktioniert Europa nicht. Ich könnte Martin Schulz jetzt auch vorhalten, dass in den vier Ländern, wo es heute die großen Krisen gibt, zuvor eine sozialistische Regierung an der Macht war, bevor es zur Krise kam.

STANDARD: Portugal, Spanien, Griechenland. Irland hatte bis 2011 einen liberalen Premierminister.

Karas: Tatsache ist, dass bei allen großen Initiativen gegen die Krise, bei den Plänen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, bei der neuen Finanzmarktregulierung, bei der Frage des Umgangs mit Staatsschulden, die Sozialdemokraten im Parlament genauso gestimmt haben wie die Volkspartei. Wir haben in den meisten Abstimmungen Konsens. In beiden großen Fraktionen gibt es auch Populisten am linken wie am rechten Rand. Das Entscheidende ist aber, dass es bei Sozialdemokraten und Christdemokraten Menschen gibt, die das Gemeinsame über das Trennende stellen und Europa besser machen. Das wird nach dieser Wahl noch viel wichtiger sein als bisher. Außer den Sozialdemokraten und der Volkspartei wird niemand eine Mehrheit haben. Wir sind daher gezwungen, konstruktiv zusammenzuarbeiten, wenn wir Europa weiterbringen wollen. Und noch etwas zu Österreich: Es stimmt doch gar nicht, dass die Christdemokraten verlieren. Die ÖVP legt zu. Vieles hängt von nationalen Befindlichkeiten ab. In Frankreich wird die SP stark verlieren, in Großbritannien wird Labour stark dazugewinnen. Das ist in jedem Land anders. Also bitte keine Simplifizierungen und kein Lagerdenken.

STANDARD: Dennoch, eine ganz einfache Frage: Warum soll man die Konservativen auf europäischer Ebene wählen?

Karas: Schon wieder so eine Simplifizierung! Der ständige Begriff "konservativ" entspricht nicht den Realitäten. Wir haben in der Volkspartei Christdemokraten, Konservative und Liberale. Wir haben in der Volkspartei Christdemokraten, Konservative und Liberale. Ich bin ein Christdemokrat, wenn sie wollen auch ein liberaler Christdemokrat. "Warum soll man uns wählen? Weil wir für Wachstum und Beschäftigung stehen, weil wir Politik nicht über noch mehr Schulden regeln wollen. Weil Markt und soziale wie ökologische Verantwortung zusammengehören. Und weil wir Europa besser machen und nicht renationalisieren wollen.

STANDARD: Was erwarten Sie nach den Wahlen von der nächsten EU-Kommission, wird sie eine stärkere Rolle spielen können?

Schulz: Sie wird eine stärkere Rolle spielen müssen. Europa besteht aus zwei Polen. Auf der einen Seite haben wir diesen Pol der intergouvernementalen Regierungszusammenarbeit von 28 souveränen Staaten, die auch souverän bleiben werden. Auf der anderen Seite haben diese Staaten die EU-Institutionen geschaffen. Diese Institutionen müssen ihre Aufgaben erfüllen, die von den Staaten auf sie übertragen sind. Diese Pole sind in Bewegung geraten. Das politische Gewicht hat sich zugunsten des Rates verändert. In den Mitgliedsstaaten haben Sie ständig politische Wechsel, die Mehrheiten ändern sich. Es gibt immer eine Staatengruppe, die mit einer anderen besser kann, mit anderen weniger gut. Es gibt Blockaden im Ministerrat. Wenn wir nun dieses labile Gleichgewicht in Europa wiederherstellen wollen, das wir zwischen den Staaten in der Union immer hatten, das sich zuletzt aber zugunsten des Rates verschoben hat, dann brauchen wir jetzt wieder die Kommission als ein koordinierendes Zentrum. So wie vor 20 Jahren unter Jacques Delors.

STANDARD: Und inhaltlich?

Schulz: Es gibt einen Vertrauensverlust der Menschen, weil sie die Gerechtigkeitslücke sehen. Das gilt übrigens in reichen wie in armen Staaten gleichermaßen. Diese Gerechtigkeitslücke müssen wir schließen. Ein Beispiel: Spekulanten machen Milliardengewinne und zahlen keine Steuern. Aber machen sie Milliardenverluste, zahlen die Steuerzahler. Das ist eine Ungerechtigkeit, die die Leute da empfinden, das muss die Kommission angehen, das muss man verhindern.

Karas: Die Richtung, die Europa einschlägt, hängt sehr vom Europäischen Parlament ab. Je stärker das Parlament ist, desto stärker auch die Kommission. Mit der indirekten Wahl des EU-Kommissionspräsidenten wird erstmals klar, dass die Kommission in erster Linie dem Parlament verantwortlich ist und nicht den nationalen Regierungen. Wie demokratisch Europa in Zukunft sein wird, wird davon abhängen, ob wir es schaffen, den Intergouvernementalismus zurückzudrängen durch eine Reform des EU-Vertrages. An jeder Entscheidung auf europäischer Ebene muss das Parlament beteiligt sein. Das geht ohne Vertragsreform nicht. Daher muss das Europäische Parlament sofort nach der Wahl einen Konvent initiieren.

STANDARD: Wenn Sie Kommissionspräsident werden, was wäre das wichtigste, was sie sofort tun würden?

Schulz: Es sind drei Schritte. Als Erstes würde ich an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kommission einen Brief schreiben mit der Bitte, sie sollten nicht darüber nachdenken, ob es noch irgendein Fleckchen in Europa gibt, in das sich die Kommission noch nicht eingemischt hat. Sie sollten mir umgekehrt Vorschläge machen, was möglicherweise gut, wenn nicht besser subsidiär geregelt werden könnte, also auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene. Das wäre ein wichtiger Schritt zur Rückgewinnung von Vertrauen, wir müssen mit der Entscheidungsfindung wieder näher an die Menschen heran. Der zweite Schritt ist, ich würde unter allen Umständen versuchen, ein Mittelstandskreditprogramm auf den Weg zu bringen. Das größte Problem in den Krisenländern ist die Kreditklemme für kleine und mittlere Unternehmen.

STANDARD: Da dürfte Herr Karas begeistert zustimmen.

Schulz: Das fände ich auch gut, wenn wir dafür eine breite Mehrheit hätten, weil das Rückgrat der Wirtschaft in den meisten Ländern nicht die großen Industriebetriebe sind, sondern die kleinen und mittleren. Das sind auch die, die die meisten Arbeitsplätze zur Verfügung stellen. Die haben fast überall das gleiche Problem. Die Bankenkrise hat zu einer Zurückhaltung bei der Kreditvergabe geführt, das lähmt viele Unternehmen. Wenn die aber bereit sind zu investieren, vor allem junge Leute einzustellen, dann müsste man das privilegieren.

STANDARD: Was wäre der dritte Schritt?

Schulz: Wir müssten versuchen, die Strukturen der Kommission auf Kernbereiche zu konzentrieren, wenn sie um Aufgaben einmal wieder entlastet ist. Einer der Kernbereiche ist die digitale Welt. Europa kommt da in eine dramatische Abhängigkeit von den US-Konzernen, übrigens auch ökonomisch. Dagegen würde ich etwas unternehmen.

Karas: Die ersten von Schulz genannten Schritte entsprechen der Beschlusslage des Europaparlaments, beschlossen mit den Stimmen der EVP. Auch was die Organisationsstruktur der Kommission betrifft, bin ich völlig einverstanden. Es muss die Handlungsfähigkeit und die Effizienz der Kommission gestärkt werden. Die wachsende Zahl von Kommissaren führt bisher zu einer Zersplitterung der Verantwortung. Ich will, dass die Kommissarsagenden stärker gruppiert werden, die Verantwortlichkeiten gebündelt werden. Die EU-Kommission muss sich selber zur Regierung Europas machen. Und was die Reduzierung von Abhängigkeiten betrifft, würde ich noch einen Schritt weiter gehen. Wir müssen nicht nur von der IT-Infrastruktur der USA unabhängiger werden, sondern auch vom Gas Russlands und dem Öl der OPEC-Staaten. Das ist nicht nur ein Programm für mehr politische Unabhängigkeit, sondern auch ein Wachstums- und Beschäftigungsmotor für Europa. Außerdem würde ich der Kommission den Auftrag geben, Europa zum Bildungs-, Wissenschafts- und Forschungsstandort Nummer eins in der Welt zu machen.

STANDARD: Juncker und Schulz sind aussichtsreiche Spitzenkandidaten der größten Fraktionen für das Amt des Kommissionspräsidenten, aber werden sie das am Ende auch werden? Beim Außenministertreffen in Athen vor zwei Wochen haben die Integrationsskeptiker aus Großbritannien und Ungarn zum Beispiel erklärt, sie würden alles tun, um jeden der beiden zu verhindern, weil sie allzu integrationsfreundlich seien. Halten Sie das für denkbar?

Karas: Nein, das würde zu einer institutionellen Auseinandersetzung führen, wie es sie noch nie gegeben hat. Der nächste Kommissionspräsident benötigt für seine Wahl die Mehrheit im EU-Parlament. Im Parlament wird nur einer der beiden Kandidaten eine Mehrheit bekommen, weil sich weder die Bürger noch ihre Vertreter pflanzen lassen. Einer der beiden, Schulz oder Juncker, wird Kommissionspräsident werden.

STANDARD: Wie sehen Sie das, auch unter Einbeziehung des dritten Kandidaten Guy Verhofstadt von den Liberalen?

Schulz: Jedes Parlament, das seine Selbstachtung hat, wird nicht einen Kandidaten, den es selber vorgeschlagen hat, wieder fallenlassen, nur weil ihn die Regierungschefs dann nicht nehmen wollen. Umgekehrt gilt, die Abgeordneten und die Kandidaten von Sozialdemokraten, Christdemokraten und Liberalen gehen jetzt gerade in einen Wahlkampf für einen dieser Kandidaten. Sie glauben doch nicht, dass die nach der Wahl ihre Wählerinnen und Wähler so täuschen und hergehen und sagen: Wir wählen jetzt irgendeinen als Kommissionspräsidenten.

Karas: Dies ist die Grundeinstellung nicht nur bei den drei größten Fraktionen, sondern es gibt einen ganz breiten Konsens quer durch alle Fraktionen. Das ist eine Frage des Selbstverständnisses des Parlaments.

STANDARD: Es gibt hartnäckige Gerüchte und Berichte, dass die Regierungschefs trotzdem einen anderen zum Kommissionschef machen wollen, sozusagen den kleinsten gemeinsamen Nenner suchen.

Schulz: Das ist ja das Spannende daran. Man spekuliert darüber, was hinter verschlossenen Türen passiert, anstatt zu sehen, was offen geschieht. Aber genau davon haben die Leute in Europa die Nase voll, von diesen Hinterzimmerdeals. Also kann ich davor nur warnen. Es gibt aber ohnehin auch eine ganz andere Sichtweise. Es haben sich zwölf sozialdemokratische Regierungschefs in Rom auf einen Kandidaten festgelegt, auf mich. In Dublin haben sich elf christdemokratische Regierungschefs auf den Kandidaten Juncker festgelegt und das auch offen erklärt. Und vier liberale Ministerpräsidenten haben den liberalen Spitzenkandidaten Verhofstadt aufgestellt. Das heißt, 27 von 28 Regierungen der Mitgliedsstaaten haben sich personell festgelegt. Es gibt also doch eine große Wahrscheinlichkeit, dass die Regierungen nach der Wahl zu dem stehen, was sie vor der Wahl gesagt haben. Was die Briten angeht, wissen wir alle, wie sie operieren.

Karas: Vergessen Sie nicht, dass der Kommissionspräsident nicht mehr einstimmig, sondern mit qualifizierter Mehrheit von den Regierungschefs nominiert werden muss. Auch deshalb ist die Europawahl so wichtig. Sie beendet die Deals hinter Polstertüren und sorgt für Transparenz bei der Wahl des europäischen Regierungschefs.

STANDARD: Was bedeutet das in der Praxis? Die Wahl ist am 25. Mai zu Ende, am 27. Mai tagt das Präsidium des EU-Parlaments zur Frage des Kommissionspräsidenten, am Abend treffen sich die Regierungschefs beim EU-Gipfel in Brüssel. Wird das dann schon entschieden sein?

Schulz: Man wird dann die Stärke der Fraktionen vermutlich schon kennen. Die Fraktionschefs haben sich vorgenommen, dass sie dann miteinander reden. Karas hat schon darauf hingewiesen, dass keine Fraktion eine Mehrheit haben wird. Das heißt, wir werden Konstellationen für eine Mehrheit suchen müssen. Die EVP wird schauen, ob sie eine Mitte-rechts-Mehrheit hinbekommt, die Sozialdemokraten, ob sie eine Mitte-links-Mehrheit hinbekommen. Und im Lichte der tatsächlichen Ergebnisse treffen wir uns im Präsidium. Dieses Treffen wird auch einen großen Einfluss auf das Treffen der Regierungschefs am Abend desselben Tages haben. Ich glaube, dass natürlich auch eine Reihe von Regierungschefs über diese Frage vorher noch miteinander reden werden.

Karas: Ich glaube, es wird zwischen Sonntag und Dienstag keine Entscheidung fallen. Wir werden wahrscheinlich am Sonntagabend noch gar nicht wissen, wie die Kräfteverhältnisse im Parlament wirklich sein werden. Es wird auch kaum möglich sein, Mitte-rechts- oder Mitte-links-Mehrheiten zu bilden, sondern nur eine starke Mitte wird Europa voranbringen können. Umso stärker das Parlament ist, umso größer ist unser Einfluss.

STANDARD: Zum Schluss spannen wir den Bogen zum Anfang des Gesprächs, als es darum ging, was Sie an ihrem Gegenüber besonders schätzen. Nun die Frage: Was schätzen Sie an Ihrem Gegenüber gar nicht?

Schulz: Das ist für mich schwierig zu beantworten, denn ich weiß nicht, was ich an Othmar Karas nicht schätze. Ich würde einmal sagen, seine Parteizugehörigkeit. Es wäre mir lieber, er wäre ein aufrechter Sozialdemokrat, dann wäre meine Freundschaft zu ihm noch leichter. Aber es zeigt, dass auch aufrechte Männer politische Irrtümer begehen.

Karas: Ich bin überzeugter Christdemokrat. Aus diesem Selbstverständnis heraus gehöre ich zu denen in diesem Haus, die Brücken bauen und erfolgreich Zusammenarbeit organisieren, das kann Martin Schulz bezeugen ...

Schulz: Absolut.

Karas: Das ist der Grund dafür, dass wir miteinander können. Wir können miteinander streiten, ohne uns zu verletzen. Auch bei diesem Gespräch sehen Sie: Martin Schulz ideologisiert und polarisiert mehr als ich, und manchmal liegt in der Polarisierung Ungerechtigkeit. Ich habe ein inneres Problem mit jeder Form der Vereinfachung, weil man damit auch ungerecht sein kann. Aber er macht dann eh meistens einen Beistrich und sagt dann einen zweiten Satz dazu. Aber da haben wir einen unterschiedlichen Zugang. Aber was die Rolle des EU-Parlaments betrifft als Stimme der Bürger in Europa, da sind wir untrennbar. (Thomas Mayer, derStandard.at, 19.4.2014)